Die Blutlinie
fühle mich, als wäre ich verprügelt worden. Als hätte Callie, anstatt zu reden, einen Golfschläger gepackt und mich damit vermöbelt. In meinem Kopf dreht sich alles. Durch den Schock hindurch registriere ich eine sehr selbstsüchtige Emotion, eine, die mich beschämt und an der ich mich zugleich festhalte wie eine Ertrinkende. Es ist die Angst, vor dem Team die Fassung zu verlieren. Wie wird mich das vor ihnen dastehen lassen, besonders vor James? Selbstsüchtig, ja, doch ich erkenne sie auch als das, was sie ist – ein Werkzeug, das ich benutzen kann, um mich unter Kontrolle zu halten.
Ich nehme all meine Kräfte zusammen und verdränge den Schock und die Sorgen, die um die Oberhand kämpfen. Ich verdränge sie weit genug, um reden zu können. Ich bin überrascht über den Klang meiner Stimme, als sie schließlich ertönt: gleichgültig und gefasst.
»Gehen wir das Punkt für Punkt durch, okay? Punkt eins regele ich allein. Kommen wir zum zweiten … Du sagst, sie sei eine Art … eine Art Internet-Prostituierte gewesen?«
Eine fremde Stimme meldet sich zu Wort. »Nein, Ma’am, das stimmt nicht.«
Es ist der Knabe, der uns vom Bereich Computerkriminalität zugeteilt wurde. Mister Ohrring. Ich sehe ihn an.
»Wie heißen Sie?«
»Leo. Leo Carnes. Ich bin Ihnen wegen dieser E-Mail zugeteilt worden, aber auch wegen dem, womit Ihre Freundin ihren Lebensunterhalt verdient hat.«
Ich mustere ihn demonstrativ von oben bis unten. Er erwidert meinen Blick, ohne zurückzuzucken. Er ist ein gut aussehender Bursche, vier- oder fünfundzwanzig Jahre alt, dunkles Haar, ruhige Augen. »Was war das? Sie meinten, das stimme nicht. Also erklären Sie es uns.«
Er steht auf und kommt ein paar Sitze näher. Eingeladen in den Inneren Kreis, nutzt er die Gelegenheit. Jeder will dazugehören. »Es bedarf einer längeren Erklärung.«
»Wir haben die Zeit. Sprechen Sie.«
Er nickt, und ein Glänzen erscheint in seinen Augen, das ich als Aufregung erkenne. Computer sind seine Welt, seine Leidenschaft. »Um es zu verstehen, müssen Sie wissen, dass Pornografie im Internet eine ganz andere Subkultur ist als Pornografie in der ›realen Welt‹.« Er lehnt sich zurück, entspannt sich, macht sich bereit, einen Vortrag über ein Thema zu halten, über das er alles weiß. Es ist sein Moment im Scheinwerferlicht, und ich lasse ihm diesen Auftritt mit Vergnügen. Er verschafft mir ein wenig Zeit, meine Gedanken zu ordnen, und gibt meinem Magen Gelegenheit, sich zu beruhigen. Ich kann an etwas anderes denken als an die kleine Bonnie, die drei Tage lang ihrer toten Mutter ins Gesicht starren musste.
»Fangen Sie an.«
»Anfangs, etwa um 1978 herum, gab es etwas, das sich BBS nannte. Bulletin Board Systeme, Mailboxen. Der vollständige Name lautete ›Computerisierte Bulletin Board Systeme‹. Es waren die ersten nichtstaatlichen, öffentlich zugänglichen Netzwerke. Man brauchte lediglich ein Modem und einen Computer, um Nachrichten und Dateien auszutauschen und so weiter. Natürlich waren damals fast alle Nutzer Wissenschaftler oder Computerfreaks. Das ist wichtig, weil diese BBS ein Ort wurden, um pornografische Bilder zu tauschen. Man konnte sie tauschen, verkaufen, was auch immer. Und an diesem Punkt reden wir nicht bloß von einem neuen Wilden Westen, sondern von einem ganzen unentdeckten Land. Keine Aufsicht, nichts. Das ist ganz wichtig für die Porno-Konsumenten, weil …«
»Weil es umsonst und anonym war«, wirft James ein.
Leo grinst und nickt eifrig. »Genau! Man musste nicht mehr hinten in einen Pornoladen schleichen und seine Sachen in einer braunen Tüte nach Hause tragen. Man konnte sich in seinem Schlafzimmer einschließen und seine Pornobilder herunterladen, ohne dass man Angst haben musste, entdeckt zu werden. Es war gigantisch! Also, Bulletin Board Systeme waren das einzige öffentliche Netz, sie waren überall, und die Pornografie war bereits überall drauf.
Bulletin Board Systeme starben ziemlich schnell aus, als sich das Internet entwickelte und Webseiten aus dem Boden schossen und Webbrowser und Domainnamen und all das kamen. Die Bulletin Board Systeme waren für das Versenden und Empfangen von Daten erforderlich, wobei man sie erst nach dem Herunterladen sehen konnte. Heute haben wir Webseiten, auf denen man sofort alles sehen kann, sobald sie aufgerufen werden. Und was geschah mit der Pornografie?« Er lächelt. »Zwei Dinge sind passiert. Einerseits gab es ein paar clevere Geschäftsleute – ich rede
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