Die Blutlinie
Aber nennen Sie mich nicht ›Junge‹.«
Callie dreht sich zu mir um und grinst. »Vielleicht passt er ja doch zum Team, Smoky.« Sie wendet sich wieder Leo zu. »Noch was. Wenn dir dein Leben lieb ist, dann nenn mich nie wieder ›Rotschopf‹, Ohrring-Jüngelchen.«
»Ich werde mit Alan reden«, sage ich. Ich bin mit den Gedanken woanders und nicht so amüsiert über dieses Wortgefecht, wie ich es normalerweise wäre. Ein kleiner Teil von mir, der früher einmal ihr Anführer war, registriert, dass das, was Callie tut, gut ist für Leo und deshalb auch für das Team. Sie akzeptiert ihn auf ihre Weise. Ich bin froh darüber. Manchmal, wenn Teams für einen langen Zeitraum zusammenarbeiten, werden sie zu insular, beinahe xenophob. Das ist nicht gesund, und ich bemerke erleichtert, dass sich unser Team nicht auf eine Insel zurückgezogen hat. Nun ja, zumindest Callie nicht. James hingegen starrt aus dem Fenster, verschlossen, kalt und teilnahmslos. Im Grunde genommen typisch James. Nichts Neues.
Ich erreiche die Sitzreihe, zu der Alan sich zurückgezogen hat. Er starrt zu Boden, und die Anspannung, die von ihm ausgeht, ist erdrückend. »Was dagegen, wenn ich mich setze?«, frage ich.
Er winkt mit der Hand, ohne mich anzusehen. »Wie du willst.«
Ich setze mich und betrachte ihn eine Weile. Er wendet sich ab und starrt aus dem Fenster. Ich beschließe, es auf direktem Weg zu versuchen. »Was ist los mit dir?«
Er sieht mich an, und ich zucke beinahe zurück, als ich die Wut in seinen Augen erkenne.
»Was soll schon sein? Willst du beweisen, dass du mit dem ›Bruder‹ reden kannst? ›Ey, was is’n los oder wie?‹«
Ich bin sprachlos. Wie benommen. Ich warte in dem Glauben, dass es vorbeigeht, doch Alan starrt mich weiter an, und seine Wut scheint nur noch zuzunehmen.
»Und?«, fragt er.
»Du weißt, dass es nicht das ist, was ich wollte, Alan.« Meine Stimme ist leise. Ganz ruhig sogar. »Es ist für jeden offensichtlich, dass du aufgebracht bist wegen irgendetwas. Ich … ich frage nur.«
Er funkelt mich noch einige Sekunden länger an, doch dann erlischt das Feuer in seinen Augen langsam. Ein wenig. Er blickt nach unten auf seine Hände. »Elaina ist krank.«
Mein Unterkiefer sinkt herab. Schock und Sorge überfluten mich, augenblicklich und bis in die Eingeweide. Elaina ist Alans Frau, und ich kenne sie genauso lange wie ihn. Sie ist eine wunderschöne Latina, sowohl äußerlich als auch in ihrem Herzen. Sie hat mich im Krankenhaus besucht, der einzige Besuch, den ich nicht sofort wieder fortschickte. Oder vielmehr ließ sie mir überhaupt keine Wahl. Sie platzte in mein Zimmer, scheuchte die Krankenschwestern beiseite, marschierte zu meinem Bett, setzte sich auf die Kante und zwang meine Hände beiseite, um mich in die Arme zu nehmen, alles ohne ein einziges Wort. Ich sank gegen sie und weinte, bis ich nicht mehr konnte. Dieser Augenblick wird für immer meine stärkste Erinnerung an Elaina bleiben. Die Welt – ein verschwommener Nebel hinter einem Vorhang aus Tränen, und Elaina, warm und weich und stark, die mein Haar streichelt und leise beruhigende Worte in einer Mischung aus Englisch und Spanisch spricht. Sie ist eine Freundin, eine von der seltenen Sorte, die einem für immer ans Herz wachsen.
»Wie? Was heißt das?«
Vielleicht ist es die aufrichtige Angst, die er aus meiner Stimme hört; jedenfalls ist seine Wut plötzlich verschwunden. Kein Feuer mehr in diesen Augen. Nur noch Schmerz. »Darmkrebs im zweiten Stadium. Sie haben den Tumor entfernt, doch er war bereits aufgebrochen. Ein Teil der Krebszellen ist schon vor der Operation in ihre Blutbahn gelangt.«
»Und was bedeutet das?«
»Das ist der beschissene Teil. Möglicherweise hat das überhaupt nichts zu bedeuten. Vielleicht sind die Krebszellen, die freigesetzt wurden, als der Tumor aufbrach, nicht weiter gefährlich. Oder aber sie kreisen in ihrem Körper, um sich überall auszubreiten. Die Ärzte können uns keine Prognose geben.« Ich sehe, wie der Schmerz in seinen Augen zunimmt. »Wir haben es gemerkt, weil sie schlimme Schmerzen hatte. Wir dachten, es sei vielleicht eine Blinddarmentzündung. Sie wurde sofort in die Chirurgie gebracht und operiert, und da fanden sie den Tumor und entfernten ihn. Weißt du, was der Arzt hinterher zu mir gesagt hat? Er hat gesagt, dass sie im vierten Stadium ist. Dass sie wahrscheinlich sterben muss.«
Ich sehe auf Alans Hände. Sie zittern.
»Ich konnte es ihr nicht sagen. Sie war auf
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