Die Blutlinie
und spüre eine fast überwältigende Erleichterung, als ich sie sicher in ihrem Bett liegen und schlafen sehe. Ich bedeute dem Polizisten mit einer Handbewegung, das Zimmer mit mir wieder zu verlassen. Nachdem wir draußen sind und die Tür geschlossen haben, spricht er es aus.
»Der Umschlag ist wohl von dem Mörder, nicht?«
»Ja, Jim, das ist er«, bestätige ich. »Vermutlich ist er das.« Ich habe nicht die Energie zu beißendem Sarkasmus. Meine Worte klingen einfach nur müde. Jenny hat kein derartiges Problem. Sie stößt ihm so heftig den Finger gegen die Brust, dass er zusammenzuckt.
»Sie haben verdammten Mist gebaut! Ich bin stocksauer, weil ich weiß, dass Sie ein guter Polizist sind! Wissen Sie, wieso ich das weiß, Jim? Weil ich speziell Sie für diese Aufgabe angefordert habe. Weil ich weiß, dass Sie mehr sind als ein wandelndes Stück Fleisch.« Sie schäumt vor Wut. Jim nimmt ihre Unmutsäußerungen ohne jede Spur von Ärger oder Widerspruch hin.
»Sie haben Recht, Detective Chang. Ich kann nichts zu meiner Verteidigung vorbringen. Die Schwester vorn beim Empfang hat den Umschlag gebracht. Ich habe Agent Barretts Namen darauf gesehen, doch ich habe nicht nachgedacht. Ich habe weiter in meiner Zeitung gelesen.« Er sieht so niedergeschlagen aus, dass er mir beinahe Leid tut. Beinahe. »Verdammt! Ich habe mich von der Routine einlullen lassen. Ein dämlicher Anfängerfehler! Verdammt, verdammt, verdammt!«
Jenny scheint ebenfalls ein wenig Mitleid mit dem Polizisten zu empfinden, als sich dieser so eifrig selbst beschimpft. Ihre nächsten Worte klingen versöhnlicher. »Sie sind ein guter Polizist, Jim. Ich kenne Sie. Sie werden sich bis zu Ihrem letzten Tag an diesen Bockmist erinnern – und das ist auch ganz richtig so –, aber Sie werden so einen Fehler hoffentlich nie wieder begehen.« Sie seufzt. »Außerdem haben Sie Ihre wichtigste Pflicht erfüllt. Sie haben auf das Kind aufgepasst, und ihm ist nichts geschehen.«
»Danke, Lieutenant. Allerdings fühle ich mich dadurch kein Stück besser.«
»Wie lange ist es her, dass Sie diesen Umschlag bekommen haben?«
Er denkt eine Sekunde nach, bevor er antwortet. »Ich würde sagen … eineinhalb Stunden. Ja. Die Schwester von der Station hat ihn mir gebracht und gesagt, irgendein Typ habe ihn abgegeben. Sie nahm an, dass ich Ihnen den Umschlag zukommen lassen könne.«
»Gehen Sie und erfragen Sie die Einzelheiten. Wie er abgeliefert wurde, wie der Kerl aussah, alles.«
»Jawohl, Ma’am.«
Ich starre den Umschlag an, während Jim davonrennt. »Werfen wir einen Blick hinein.«
Ich öffne ihn. Im Innern finde ich einige zusammengeheftete Blätter. Auf der obersten Seite kann ich lesen: Ich grüße Sie, Agent Barrett. Das reicht für den Augenblick. Ich sehe Jenny an. »Er ist von ihm. Von ihnen.«
»Verdammt!«
Auf meinen Handflächen hat sich ein wenig Schweiß gebildet. Ich weiß, dass ich lesen muss, was sich in diesem Briefumschlag befindet, doch ich fürchte die nächsten Enthüllungen dieser Mörder. Ich seufze, öffne den Umschlag ganz und ziehe die zusammengehefteten Blätter hervor. Der Brief liegt zuoberst.
Ich grüße Sie, Agent Barrett! Ich schätze, dass Sie inzwischen die Ermittlungen aufgenommen haben, Sie und Ihr Team. Hat Ihnen das Video gefallen, das ich Ihnen dagelassen habe? Ich empfand die von mir ausgewählte Musik als besonders passend.
Wie geht es der kleinen Bonnie? Schreit und weint sie, oder ist sie ganz still? Ich frage mich das nämlich von Zeit zu Zeit. Bitte sagen Sie ihr, dass ich mich gemeldet habe.
Die meisten meiner Gedanken gelten allerdings Ihnen, Agent Barrett. Wie geht die Heilung voran? Schlafen Sie immer noch nackt dieser Tage? Mit der Packung Zigaretten auf dem Nachttisch links von Ihrem Bett? Ich war dort, und ich muss sagen, sie reden ziemlich laut im Schlaf.
»Heilige Scheiße!«, flüstert Jenny.
Ich reiche ihr die Blätter. »Halt die bitte für einen Moment, ja?« Sie nimmt sie. Ich renne zum nächsten Mülleimer und erbreche alles, was ich im Magen habe. Diese Kerle waren in meinem Haus! Sie haben mich im Schlaf beobachtet! Entsetzen und Angst durchzucken mich, gefolgt von einem Übelkeit erregenden Gefühl der Schändung. Dann Zorn. Doch alles ist von Angst durchdrungen. Ein Gedanke schießt mir durch den Kopf: Es könnte erneut geschehen! Ich zittere am ganzen Leib und hämmere mit der Faust gegen den Rand des Mülleimers. Dann wische ich mir mit dem Handrücken über den
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