Die Blutlinie
will nur wieder zurück in die Schwärze, endlich alles hinter mir haben, vorbei. Ich spüre, wie meine Hand nach oben geht, um seinen letzten Wunsch zu erfüllen – und dann passiert es.
»MAMIIII!«, höre ich Alexa schreien. Es ist ein Schrei voller Angst und Grauen.
Er ist wie ein Schlag mit dem Handrücken mitten ins Gesicht, ein Schrei, der mich bis in die Knochen erschüttert.
»Er hat uns erzählt, Alexa wäre tot, Callie«, flüstere ich im Krankenhauszimmer. »Er hat gesagt, er hätte sie gleich zu Anfang getötet. Ich habe ihren Schrei gehört, und mir war plötzlich klar, dass er mich belogen hatte, und ich wusste – ICH WUSSTE –, dass er als Nächstes zu ihr gehen würde!« Ich balle die Fäuste bei der Erinnerung und spüre, wie ich am ganzen Leib zu zittern anfange vor Entsetzen und nackter Wut, genau wie damals.
Es war, als hätte jemand in mir eine Bombe gezündet. Ich wurde nicht einfach hellwach, ich explodierte. Der Drache kam aus meinem Bauch hervor und brüllte und brüllte und brüllte.
Ich schlug Sands mit voller Wucht ins Gesicht, spürte, wie seine Nase unter meiner Handkante brach. Er stöhnte, und ich war aus dem Bett und auf dem Weg zu der Nachttischkommode, wo ich meine Waffe aufbewahrte, doch er war wie ein Tier. Wild und unglaublich schnell. Kein Zögern. Er rollte sich auf den Boden und sprintete aus der Schlafzimmertür. Ich hörte seine Füße auf den Dielenbrettern stampfen, als er in Richtung von Alexas Zimmer rannte.
Und ich fing an zu schreien. Ich hatte ein Gefühl, als stünde ich in Flammen. Alles wurde weißglühend, Adrenalin verbrannte mich innerlich, und die Intensität war unerträglich. Mein Zeitgefühl hatte sich verändert. Die Zeit verging nicht langsamer, ganz im Gegenteil. Sie verging schneller. Schneller, als ich denken konnte.
Ich hatte meine Waffe und rannte nicht den Flur entlang, sondern katapultierte förmlich in Richtung von Alexas Zimmer, keine Schritte, sondern Blitze. Ich war schnell, verdammt schnell, denn er bog gerade in die Tür, als ich auch schon dort war und sie sah. Auf dem Bett. Der Knebel, den er ihr um den Mund gebunden hatte, war gelockert. Ich erinnere mich noch, wie ich »Tapferes Mädchen!« gedacht habe.
Sie schrie erneut »MAMIIII!«, die Augen weit aufgerissen, das Gesicht hochrot, Tränenströme auf den Wangen. Und dann war ich das Tier, kein Zögern, hob die Waffe, zielte auf seinen Kopf …
Dann. Horror. Horror, Horror, Horror, nicht enden wollender Horror, die Hölle auf Erden.
Dann ich, schreiend. Ich schrie und schrie und schrie, als wollte ich niemals wieder aufhören damit. Ich schoss auf Sands, wieder und immer wieder, leerte ein Magazin nach dem anderen in ihn, bis ich keins mehr hatte, und dann …
»O mein Gott, Callie.« Tränen füllen meine Augen. »Mein Gott, mein Gott, mein Gott, es tut mir so Leid.«
Sie nimmt meine Hand, schüttelt den Kopf. »Denk nicht darüber nach, Smoky.« Sie drückt meine Hand, ein fester, entschlossener Druck. So fest, dass er beinahe schmerzt. »Ich meine es ernst. Du warst nicht bei Sinnen.«
Weil ich mich erinnere, wie ich Callie gehört habe, die durch meine Wohnungstür platzte, wie ich sie auftauchen sah, die Waffe gezückt. Ich erinnere mich, wie sie sich mir mit übertriebener Vorsicht näherte, mich immer wieder aufforderte, die Waffe wegzulegen. Ich erinnere mich, wie ich sie angeschrien habe. Wie sie näher gekommen ist. Ich wusste, dass sie mir die Waffe wegnehmen wollte, und ich wusste, dass ich das nicht zulassen konnte. Ich brauchte sie noch, um sie mir an den Kopf zu setzen, den Abzug durchzuziehen, mich zu erschießen, zu sterben. Ich hatte es verdient. Ich hatte mein eigenes Kind getötet. Also tat ich das Einzige, was in diesem Augenblick einen Sinn für mich ergab. Ich richtete die Pistole auf Callie, und … und ich feuerte.
Es war reines Glück, dass keine Patrone mehr in der Kammer war. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, wird mir bewusst, dass sie nicht einmal langsamer wurde, sondern immer näher kam, bis sie nah genug war, um mir die Waffe wegzunehmen, die sie zur Seite warf. Danach erinnere ich mich an kaum noch etwas.
»Ich hätte dich töten können«, flüstere ich.
»Nein.« Sie lächelt erneut. Ihr Lächeln ist immer noch ein wenig traurig, doch es schimmert auch eine Spur der alten Spitzbübin hindurch. »Du hast nur auf mein Bein gezielt.«
»Callie!« Ich sage es als Tadel, auch wenn er sanft gemeint ist. »Ich erinnere mich.« Ich hatte
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