Die Blutlinie
Elaina das unfairste. Mit Ausnahme von Bonnie vielleicht. Ich erinnere mich, wie allein ihre Gegenwart heute Morgen Bonnies Barrieren durchbrochen hat. Ich erinnere mich an ihren Besuch bei mir im Krankenhaus. Ich will Jack Junior umbringen. Mit bloßen Händen.
»Wie geht es ihr?«, frage ich Alan.
Er lässt sich unvermittelt in einen Sessel fallen. Sieht mich verloren an. »Zuerst hatte sie Angst. Dann fing sie an zu weinen.«
»Wo ist sie jetzt?«
»Oben im Schlafzimmer, mit Bonnie zusammen.« Er sieht mich müde an. »Bonnie weicht nicht von ihrer Seite.« Er vergräbt das Gesicht in den Händen. »Gottverdammt, Smoky! Warum ausgerechnet sie?«
Ich seufze, trete neben ihn, lege ihm eine Hand auf die Schulter. »Weil sie wussten, dass es dich verletzen würde, Alan.«
Sein Kopf fährt hoch, in seinen Augen lodern Flammen. »Ich will diese Säcke schnappen!«
»Ich weiß, Alan.« Mein Gott, mir geht es nicht anders. »Alan, vermutlich wird es dir nicht helfen, aber … ich glaube nicht, dass Elaina eine konkrete physische Gefahr von Jack Junior und Co. droht, zumindest nicht im Augenblick. Ich glaube nicht, dass das der Sinn seines Briefes ist.«
»Wie kommst du darauf?«
Ich schüttele den Kopf, während ich daran denke, was Callie heute Nachmittag gesagt hat. »Es ist Teil ihres Spiels, Alan. Sie wollen, dass wir sie jagen. Und sie wollen, dass wir unser Bestes geben. Dass wir ein persönliches Interesse daran haben, sie zu schnappen.«
Sein Gesicht wird grimmig. »Es hat funktioniert.«
Ich nicke. »Das hat es.«
Er lehnt sich zurück, seufzt. Es ist ein tief empfundenes Seufzen, voller Traurigkeit. Er blickt zu mir hoch, und in seinen Augen steht ein Flehen. »Kannst du nicht zu ihr raufgehen und mit ihr reden?«
Ich berühre seine Schulter. »Natürlich kann ich das.«
Ich habe Angst davor, doch ich will es versuchen.
Ich klopfe an der Schlafzimmertür, öffne sie und spähe hinein. Elaina liegt mit dem Rücken zu mir auf dem Bett. Bonnie sitzt neben ihr und streichelt ihr über das Haar. Sie sieht mich an, als ich eintrete, und ich bleibe stehen. Ihre Augen sind voller Wut. Wir starren uns für eine Sekunde an, und ich nicke begreifend. Sie haben ihrer Elaina wehgetan. Bonnie ist wütend.
Ich umrunde das Bett, setze mich auf die Kante. Die Erinnerung an das Krankenhaus erfüllt mein Bewusstsein. Elainas Augen sind geöffnet und starren ins Nichts. Ihr Gesicht ist aufgedunsen vom Weinen. »Hallo«, sage ich.
Sie sieht mich an. Wendet den Blick ab, starrt wieder ins Nichts. Bonnie streichelt ihr weiter den Kopf.
»Weißt du, was mich am meisten aufregt, Smoky?«, durchbricht Elaina ihr Schweigen.
»Nein. Sag es mir.«
»Dass Alan und ich nie Kinder hatten. Wir haben es versucht, immer und immer wieder, aber es hat nicht geklappt. Jetzt bin ich zu alt, und ich muss mich mit dem Krebs herumschlagen.« Sie schließt die Augen, öffnet sie wieder. »Und dieser Mann kommt daher und dringt in unser Leben ein. Lacht über uns. Über mich. Er macht mir Angst.«
»Genau das wollte er erreichen.«
»Er hat es geschafft.« Schweigen. »Ich wäre eine gute Mutter geworden, meinst du nicht, Smoky?«
Ich bin erschrocken über die Tiefe des Schmerzes, der aus Elaina spricht. Es ist Bonnie, die ihre Frage beantwortet. Sie tippt Elaina auf die Schulter, und Elaina dreht ihr den Kopf zu. Bonnie wartet, bis sie sicher ist, dass sie ihr in die Augen sieht, und dann nickt sie. Ja, sagt sie. Du wärst eine wunderbare Mom geworden.
Elainas Augen werden weich. Sie streckt die Hand aus, streichelt Bonnies Gesicht. »Danke, mein Liebes.« Schweigen. Sie sieht mich an. »Warum tut er so etwas, Smoky?«
Warum hat er das getan, warum tut er es, warum passiert das alles? Warum meine Tochter, mein Sohn, mein Mann, meine Frau? Es ist die niemals endende Frage aller Opfer.
»Die kurze Antwort lautet, weil es ihm Freude macht, dir wehzutun, Elaina. Das ist das einfache Motiv dahinter. Zweitens weiß er, dass er Alan damit Angst macht. Das vermittelt ihm ein Gefühl von Macht. Und er liebt dieses Gefühl.«
Natürlich ist mir bewusst, dass das keine sehr gute Antwort auf diese niemals endende Frage darstellt. Warum ich? Ich bin eine gute Mutter/Tochter; ein guter Vater/Bruder/Sohn. Ich halte den Kopf unten, tue mein Bestes. Sicher, ich lüge hin und wieder, aber ich sage häufiger die Wahrheit, als dass ich lüge. Und ich liebe die Menschen in meinem Leben und sorge für sie, so gut ich kann. Ich versuche meistens,
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