Die Blutlinie
kriegst heute Nacht noch einen weiteren Anruf.«
Mein Magen krampft sich erneut zusammen. Jack Junior hat gesagt, jeder von uns würde etwas verlieren. Leo ist bis jetzt unbehelligt geblieben.
»Ich will dieses Dreckstück haben, Smoky. Ich will ihn haben!«
Ich habe dies heute bereits zweimal gehört, von anderen ausgesprochen, auf andere Weise. Es erneut zu hören, erfüllt mich mit Wut und Verzweiflung. Es gelingt mir, meine Stimme tonlos zu halten. »Ich auch, James, glaub mir, ich auch. Hilf deiner Mutter. Ruf mich an, wenn du mich brauchst.«
»Das wird nicht der Fall sein.«
So viel zu Trauer und Verwundbarkeit.
Er legt auf, und ich bleibe in meinem Wagen in der Einfahrt sitzen und starre zum Mond hinauf.
Eine Minute lang, eine einzige Minute gebe ich einer jener selbstsüchtigen, egoistischen Regungen nach, die nur Menschen in einer Position empfinden können, die über Leben oder Tod entscheiden. Ich habe das Gefühl, mein Team im Stich zu lassen, doch einen selbstsüchtigen Augenblick lang schert mich ihr Wohlbefinden nicht – ich wünsche mir bloß eines: dass ich nicht für sie verantwortlich bin.
Ich packe das Lenkrad und drücke es, bis die Knöchel weiß werden. »Aber du bist für sie verantwortlich!«, flüstere ich, und der Egoismus verschwindet, weicht weißglühendem Hass.
Und so tue ich etwas, das ich schon früher getan habe: Ich schreie in meinem Wagen, schreie mir die Seele aus dem Leib und schlage aus Leibeskräften auf das Lenkrad ein, unter dem beschissenen hellen Licht des Mondes.
Smoky-Therapie.
KAPITEL 31
Als ich im Haus bin, wähle ich Leos Nummer. Es läutet und läutet. »Verdammt, Leo, geh endlich ran!«, fluche ich.
Endlich tut er es. Seine Stimme klingt müde, halb tot, und mir wird unbehaglich. »Hallo?«, fragt er.
»Leo! Wo steckst du?«
»Ich bin beim Tierarzt, Smoky, mit meinem Hund.«
Die Normalität lässt meine Hoffnung wieder aufkeimen, doch nur für einen kurzen Moment.
»Irgendjemand hat ihm die Beine abgeschnitten. Ich muss ihn einschläfern lassen.« Ich stehe da wie vom Schlag getroffen, weiß nicht, was ich sagen soll. Dann bricht seine Stimme. Wie das klare, prägnante Klirren von feinem Porzellan, das auf Steinfliesen prallt. »Wer tut so etwas, Smoky? Was sind das für Menschen? Ich bin nach Hause gekommen, und er lag in meinem Wohnzimmer und wollte … wollte …« Trauer lässt seine Stimme klingen, als würde er ersticken. »Er wollte zu mir kriechen, Smoky. Überall war Blut, und er hat grauenvolle Laute von sich gegeben, wie … wie ein Baby. Er hat mich angesehen aus diesen Augen … Es war … es war, als glaubte er, etwas Falsches getan zu haben. Als wollte er mich fragen: Was habe ich falsch gemacht? Ich bringe es wieder in Ordnung, aber sag es mir bitte. Siehst du? Ich bin ein guter Hund!«
Tränen laufen mir über die Wangen.
»Wer tut so etwas, Smoky?«
Doch es ist keine wirkliche Frage. Er will sagen, dass niemand existieren dürfe, der zu so etwas imstande ist.
»Jack Junior und sein Kumpan, Leo. Sie waren es.«
Ich höre ihn ächzen, und sein Ächzen ist voller Trauer und Qual . » Was? «
»Entweder waren sie es selbst, oder sie haben jemanden geschickt, der es für sie gemacht hat. Jedenfalls stecken sie dahinter, Leo.«
Ich spüre, wie er langsam begreift. »Was sie in ihrer E-Mail geschrieben haben …«
»Ja.« Ja, Leo, denke ich. Sie existieren, und was sie mit deinem Hund gemacht haben, war überhaupt nichts für sie.
Ein langes, hartes Schweigen. Ich kann mir vorstellen, was er denkt. Mein Hund wurde gefoltert und gequält wegen mir. Wegen meiner Arbeit. Schuldgefühle übermannen ihn, grauenvolle Schuldgefühle, die ihm den Boden unter den Füßen wegzuziehen drohen. Er räuspert sich. Ein elendes, klägliches Geräusch. »Wer sonst noch, Smoky?«
Ich atme durch und erzähle es ihm. Ich erzähle ihm von Elaina und James. Lasse die Einzelheiten von Elainas Krankheit weg. Als ich fertig bin, schweigt er. Ich warte geduldig.
»Ich komme zurecht.« Es ist eine knappe Aussage, eine Aussage voller Lügen. Er lässt mich wissen, dass er begriffen hat.
Ich sage den Satz einmal mehr, den Satz, den ich hasse. »Ruf mich an, wenn du mich brauchst.«
»Ja.«
Ich lege auf, und dann stehe ich in meiner Küche, die Hand auf der Stirn. Das Bild will mir nicht aus dem Kopf gehen. Diese flehenden Augen. Was habe ich falsch gemacht? Die Antwort ist grausam, und noch grausamer, weil das Tier sterben wird, ohne jemals die
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