Die Blutmafia
so einfach … Doch dies ist nicht die Zeit für Gefühle, ich weiß, Herr Kriminalrat: Wir befinden uns in der ›Phase Rot‹.
Als Ludwig Kiefer letzte Woche mit seinen Zeichnungen herausrückte, die er auch noch ›Charts‹ nannte, hatte Rio alle Mühe gehabt, ernst zu bleiben: Zielperson, Umfeld, Lebensgewohnheiten, Charakteristiken – das ging ja alles noch. Aber ›Phasenablauf‹?
»Ist gar nicht so albern, wie du glaubst, Rio. Denk es durch. Versuche es zu verinnerlichen.«
Phase Rot: erkunden und Erkenntnisse sammeln. Bei größtmöglicher innerer Entspannung Ablauf, Probleme und mögliche Alternativen ins Gedächtnis rufen …
Das Papier, das die großartigen Merksätze festgehalten hatte, existierte nicht mehr, Kiefer hatte es verbrannt. Doch die Sätze waren Rio tatsächlich haften geblieben. Wort um Wort. Er hatte sie ›verinnerlicht‹.
Entspannen … Wie entspannt ein … – das Wort M ÖRDER hatte er in seinem Bewußtsein gelöscht, um es durch A TTENTÄTER zu ersetzen. Wie entspannten sich die Leute der RAF? … Der Attentäter hat Hunger. Und was für einen Hunger er hat!
Er erhob sich, zog den Vorhang um einen Spalt auf und warf einen raschen Blick hinaus. Auch das würde ihm wohl zur Gewohnheit werden. Es gab nichts zu sehen.
Er ging an den Sekretär, stellte das Zählschloß seines Pilotenkoffers ein und öffnete. Zuerst nahm er die Stadtkarte heraus. Er entfaltete sie und suchte im Straßenverzeichnis den Max-Kroner-Platz. – Hier: ›4-C-D‹.
›4-C-D‹ war tatsächlich nicht weit von der Windscheidstraße entfernt. Nach dem Plan zu urteilen, mußte der Platz an einem Park liegen …
Wieder griff Rio in den Koffer. Er holte die ›Heckler und Koch‹ heraus. Sie schien ihm leichter zu sein als damals, als er sie zum erstenmal in die Hand genommen hatte. Das dunkle Metall des Laufs glänzte im Schein der Lampe. Die geriffelten Griffschalen fühlten sich fremd und trotzdem vertraut an. Er öffnete die Sperre und ließ das Magazin herausgleiten.
»Ein Schuß, Rio! Ein Schuß, das wäre zwar ideal – aber bringt nichts. Du mußt schon nachschießen.«
»Nachschießen«? Er kannte das flaue Gefühl, das solche Worte mit sich brachten, er wußte, daß er damit fertig werden würde … Aber jetzt, in diesem Pensionszimmer, vor sich die Waffe und die Karte, war es etwas anderes …
Noch einmal öffnete er den Koffer. Von dem Dokument, das er nun hervorholte, hatte er Ludwig nicht erzählt: Es war ein kleiner Papierstreifen. Auf der einen Seite stand ein Gebet, auf der anderen Seite sah man die Fotografie eines lächelnden Kindes …
Er betrachtete das Bild sehr lange. Er versuchte dabei, nicht an Vera und an das andere Kind zu denken, das in ihrem Leib heranwuchs.
Dann nahm er das Feuerzeug, zündete das Papier an und hielt die Flamme unter das Gebet. Das Feuer fraß sich durch die Zeile: ›Herr, gib ihr die ewige Ruhe …‹ Er drehte den Streifen. Nun überzog das Flämmchen Angelas Gesicht mit seinem lichten Schein, ehe es es verbrannte.
Entspannen, Ludwig? – Wie?
Draußen war es Nacht geworden. Die Scheinwerfer der Autos glitten vorüber. Die Motoren klangen gedämpft. Niemand schien es eilig zu haben. Irgendwo hinter Rio hing das metallisch hämmernde Geräusch eines Zugs in der Luft. Kam wohl vom Charlottenburger Bahnhof …
Er hätte den lächelnden Brillentypen nach einem Restaurant fragen können, doch er hatte es unterlassen. Er wußte den Mann, er wußte die ganze Pension nicht so richtig einzuordnen. Außerdem lief der Fernseher, als er den Schlüssel abgab. Auf dem Schirm wurde ein Fußballspiel gezeigt …
Im Gehen faßte Rio unter seine Jacke, an die rechte Seite. Die Pistole im Pensionszimmer zu lassen kam nicht in Frage. Und so hatte er sie einfach, wie Mike Douglas in ›Die Straßen von San Francisco‹, hinter den Gürtel gesteckt. Das jedoch erwies sich als extrem unbequem. Einmal scheuerte das Ding am Hüftknochen, dann wieder hinderte es ihn beim Laufen. Das Ding – wie nannte Bruno es? Ach, ja: Wumme … Die Wumme klemmte so fremdartig und unangenehm an seinem Körper wie die Prothese bei einem Frischamputierten.
›Ristorante‹ las er jetzt. In schönstem Rosa.
Er trat ein. Der Laden war brechend voll. Auch hier lief der Fernseher. Es waren die Bayern, die gegen Borussia Dortmund spielten. Fußballfans schien es wenige zu geben, all die jungen Leute, die die Köpfe über ihren Pizzas zusammensteckten, waren viel zu sehr mit sich selbst
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