Die Blutmafia
unendliches Leid, sondern den Tod gebracht hatte. Auch das mußte sie lernen …
Der Hafen Porto Colom liegt zehn Kilometer östlich von Cala d'Or , ein Naturhafen, ein gewaltiges Felsbecken, das von Kiefern und kleinen, meist zweistöckigen Häusern umstanden ist. Fischerboote tuckerten am Leuchtturm vorbei, auf den Molen trockneten Netze, und Kinder und Hunde sahen zu, wie die Netze geflickt oder die Boote frisch gestrichen wurden.
Zehn Kilometer, dachte Ludwig Kiefer, als er den Wagen an den vertäuten Schiffen vorbeigleiten ließ. Zehn Kilometer – und zwanzig Jahre. Hier herrscht noch eine andere Zeit. Ja, es scheint alles noch genauso wie damals.
Er parkte den Vectra im Schatten einer mächtigen Pinie. Auf dem breiten Bürgersteig vor dem Hostal standen Tische. An den Tischen saßen alte Männer und lasen Zeitungen. Ab und zu war auch ein Tourist zu sehen, doch nur ganz selten.
Kiefer trat in die Kühle des Gebäudes. Niemand war zu sehen. Stille und Schatten. Selbst der Geruch nach Wachs, alten Möbeln und Reinigungsmitteln rief die Vergangenheit hervor. Er sah sich mit Anna auf den Keramikkacheln stehen, und sie blickte sich um wie ein Kind: »Hier, Ludwig?« – »Wenn du meinst, Anna …« – »O ja, hier! Es ist wie eines dieser Hotels aus meiner Jugend, als ich mit meinen Eltern nach Frankreich fuhr …«
Und es war noch immer dasselbe Hotel – wie aus Annas Jugend. Eine freundliche, schwarzgekleidete, dicke Frau erschien: »Oh, Sie sind der Gast aus Deutschland?«
Er bekam, wie er es telefonisch gewünscht hatte, das Zimmer vier im ersten Stock. Das Bett war neu. Und ein modernes Bad hatten sie inzwischen auch eingebaut. Er zog die Vorhänge zurück: Da lag der Hafen, unten standen die Tische mit den alten Männern daran …
Die Fenster der Neubauten auf den Hügeln am anderen Ufer funkelten herüber. Draußen auf der Reede lagen einige beachtliche Schiffe. Der Abend senkte sich über die Hügel und die Bergkette im Norden – ein Abend wie grüne Seide. Ludwig Kiefer stand lange und lächelte.
Dann endlich drehte er sich um, schob die Hände in die Taschen und befühlte, wie jeden Tag um diese Zeit, durch den dünnen Stoff die Leistendrüsen. Unter Streßeinwirkung pflegten sie sich zu bedrohlich schmerzhaften, harten kleinen Kugeln zu verdicken. Doch nun – ja, sie waren kleiner geworden. Es ging ihm gar nicht so übel. Magen und Darm verhielten sich ruhig, und gehustet hatte er seit seiner Ankunft auf Mallorca nicht ein einziges Mal.
Er nahm den Koffer, öffnete den Deckel und nahm den Karton mit Einwegspritzen heraus. Er wählte sorgsam und mit Bedacht eine der Spritzen, setzte sich aufs Bett, band sich mit der Staubinde die Vene ab, stach ein und sah zu, wie der Kolben langsam das Blut, sein Blut, diese rotschwärzliche Flüssigkeit, in den Spritzenbehälter saugte …
Damit hatte er das getan, was er sich eine halbe Stunde zuvor, dort am Liegeplatz 124 des Yachthafens von Cala d'Or, neben dem aufgeregten Mädchen, das »Thomas!« rief, vorgenommen hatte …
Es war zehn Uhr. Vera schleppte den Plastiksack mit Zement vor die Haustür. Wenn Hubert kam, konnte er gleich anfangen. Falls er kam … Aber er war nun mal Student, wahrscheinlich würde er sie wieder versetzen.
Sie ging in die Küche zurück, um ihre Frühstückstasse abzuwaschen. Das Telefon läutete. – Rio! Na endlich …
Doch es war nicht Rio. Es war Paul Novotny.
»Ist Rio da?«
»Nein. Er ist weggefahren.«
»Ach ja? Und wohin?«
»Nach Berlin.«
Schweigen. Es war ein sonderbares Schweigen, und sie konnte ganz deutlich Pauls Atem vernehmen. Danach zu urteilen, schien er ziemlich nervös zu sein.
»Berlin?« sagte er schließlich und wiederholte das Wort so langsam, als habe er es nie gehört.
»Ja.«
»Und was ist das für eine Reportage?«
Sie lachte. »Jetzt hör mal, Paul! Was ist das für eine Art 'ne Frage zu stellen? Ich hock' doch nicht bei dir in deinem Präsidium. Ich bin ganz brav in meiner Küche beim Abwasch.«
»Entschuldige … entschuldige, Vera, aber es ist wirklich wichtig.«
»Was das für 'ne Reportage ist?«
»Wichtig ist, daß ich mich möglichst sofort mit Rio in Verbindung setzen kann. Deshalb habe ich gefragt, was er für eine Reportage vorhat.«
»Irgendwas mit der Theaterszene. Das ist das Thema, soviel ich verstanden habe.«
»Aber da hat er doch bestimmt gewisse Schwerpunkte – ich meine, vielleicht sitzt er jetzt irgendwo in einem Theater oder bei irgendeinem Menschen, den er
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