Die Blutmafia
Ihnen einfällt … Aber es geht nicht, glauben Sie mir, Myrte …«
Er legte auf und ließ sich auf das kleine, zweisitzige Sofa fallen, das an der Wand stand.
»Sie sind ein netter Mensch, Herr … Herr …«
»Martin.«
»Ein sehr, sehr netter Mensch – alles, was recht ist. Klauben wildfremde Ärzte von der Fahrbahn und bringen sie nach Hause. War ein ganz schönes Stück Arbeit, hier rauf in den dritten Stock …«
»Wissen Sie, was das Schlimmste war, Doktor: Ihre Angst, einer Ihrer Patienten könnte Ihnen über den Weg laufen.«
»Ist doch verständlich, oder? Die vertrauen mir doch. Die denken doch nicht daran, daß ich mich am hellen Tag vollaufen lasse. Aber es war nicht allein der Whisky, ich hatte einen leeren Magen.«
Er sprach jetzt klar, obwohl er bei manchen Worten mit der Zunge anstieß. »Aber ich brauchte das. Ich hatte einen ziemlichen Schock zu verdauen … Es war einfach …«
Er unterbrach sich. Er wartet, daß du gehst, dachte Rio, doch genau das wirst du nicht tun … Einen ziemlichen Schock zu verdauen? Der Schock – Reissner?
Seine Hand griff nach dem Zahnstocher im Hemd, aber er ließ sie wieder sinken. Schweigen.
Dann kam Herzogs Stimme, ganz leise: »Haben … haben Sie jemals das Gefühl gehabt, daß jemand – ich meine, jemand, den Sie nicht sehen – Ihnen zusieht?«
»Den ich nicht sehe oder den ich nicht sehen kann?«
»Den Sie nicht sehen können.«
Er hatte den Oberkörper nach vorne gebeugt und beide Hände zwischen die Knie geschoben, als müsse er sie wärmen.
»Tut mir leid«, Rio stand auf, »mit Wasser kann ich nichts anfangen, Herr Doktor. Aber was hielten Sie davon, wenn ich uns beiden in der Küche einen Kaffee mache?«
Eine Antwort wartete er gar nicht ab.
Die Küche war groß, hell und penibel aufgeräumt. Die typische Junggesellen-Küche. Rio ließ die Kaffeemaschine laufen, nahm zwei Tassen, füllte sie, verzichtete auf Zucker und brachte sie zurück.
Herzog sah ihm entgegen – und sah ihn doch nicht. Sein Kopf lehnte gegen die Sofalehne.
»Hier …« Rio schob ihm den Kaffee zu. Herzog lächelte dankbar und nippte.
»Herr Dr. Herzog, jemand, den Sie nicht sehen können, der Ihnen aber zusieht – das ist ein Gespenst.«
»Mag sein«, flüsterte der Arzt. »Ein Gespenst … Ich bin kein Spiritist. Und von diesem ganzen esoterischen Kram halte ich wenig. Aber vielleicht ist da doch was dran? Sie wissen doch …« Er hatte Schwierigkeiten, sich auszudrücken, der Mund öffnete und schloß sich wieder, dann legte er den Kopf schief. »Sie haben doch sicher schon von diesen Theorien gehört, daß die Seele eines Menschen sich nach dem Tod nicht sofort von dem Ort löst, an dem er lebte. Und je dramatischer sein Ende ist, desto schwieriger wird dieser Vorgang … Vielleicht ist das gar nicht so abwegig.« Er lächelte blaß. »Natürlich müßte man sich zuvor darüber verständigen, ob es so etwas wie die ›Seele‹ überhaupt gibt. Aber heute, heute habe ich das ganz starke Gefühl … ach, es gibt so viele Fragen, die wir nicht beantworten können, nicht wahr?«
Rio betrachtete das dunkle, dichte Haar und die grauen Fäden darin. Reissner? … Er kann nur Reissner meinen. Reissners Seele, Reissners Gespenst. – Iris hatte schließlich erzählt, daß er mit ihm gut befreundet war …
Es blieb trotzdem ein Schuß ins Blaue, als er fragte: »Denken Sie an Herrn Reissner?«
Jan Herzog nickte, nickte, wie Betrunkene nicken: langsam, bedächtig und ohne aufzuhören.
»Ich denke an Dieter. Die ganze Zeit denke ich an ihn. – Aber Sie, wie kommen Sie darauf?«
»Daran ist nichts Übersinnliches.« Rio hielt seine Tasse in der Hand und rührte im Kaffee. »Seinetwegen bin ich hier.«
»Sie?«
»Ja. Ich wollte wissen, was geschehen, ist. Ich wollte wissen, was ihn dazu getrieben hat.«
»Wieso wollen Sie das wissen?«
»Beruflich, Herr Doktor.«
»Beruflich? – Polizei?«
»Presse.«
Der Kopf sackte nach vorne. Eine lange Pause entstand. Rio hörte, wie Herzogs Atem schwerer und schneller wurde. Seine Hand preßte sich auf den Magen. Ganz plötzlich stand er auf, stürmte hinaus, und dann kam, worauf Rio schon gewartet hatte: Würgegeräusche … Herzog erbrach sich. Die Wasserspülung lief im Bad.
Es dauerte lange, bis er zurückkam. Er hatte sich einen blauen Bademantel umgeworfen, die fahle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, und er sah gesünder aus. Die Augen waren klarer.
»Entschuldigung … Aber das Zeug mußte schließlich
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