Die Blutmafia
Unmengen an Korruptionsgeldern waren geflossen, Überwachungen versäumt, Warnungen in den Wind geschlagen, wirksame Tests fehlerhaft oder überhaupt nicht angewandt, Kontrollen verwässert worden.
Dazu war nun der schlimmste aller denkbaren Fälle eingetreten: In den Blutbanken der Krankenhäuser, des DRK und der anderen Verteilerorganisationen tauchte Aids-verseuchtes Blut, tauchten Aids-verseuchte Blutprodukte auf, wurden von Produzenten plötzlich ›Rückrufaktionen‹ angeordnet.
In ohnmächtiger Resignation hatten seit einem Jahrzehnt die unter der Bluterkrankheit leidenden Menschen feststellen müssen, mit welch leichtsinniger, ja verlogener Beschwichtigungspolitik das Berliner Gesundheitsamt und die ihm angeschlossenen Fachgremien allen Bitten und Forderungen der Bluterverbände begegnete. Bereits im Jahr 1985 war die Hälfte der Hämophilen an Aids erkrankt. Und das BGA …? Die notwendigen Test- und Dekontamimerungstechniken seien noch nicht ausgereift gewesen! Jetzt aber habe man alles unter Kontrolle, denn schließlich: Ein unvermeidbares Restrisiko sei bei keiner pharmazeutischen Produktion zu vermeiden, es betrage aber höchstens eins zu einer Million.
Lügen, Selbsttäuschung? Nur langsam wurden die Konturen des größten Medizinskandals des Jahrhunderts sichtbar: eines Komplotts zwischen der Industrie, die in Europa wie in den USA ihren Wirtschafts- und Renditeinteressen das Leben Tausender von Menschen opferte – und einer mit ihr verfilzten Pfründe-Hierarchie, die den Tod derjenigen in Kauf zu nehmen schien, zu deren Schutz sie verpflichtet und vereidigt worden war … Es zeigte sich, daß Thomas Drees, der Vorstandsvorsitzende eines großen amerikanischen Pharma-Unternehmens, recht hatte, als er sagte, die Milliardeninteressen der Industrie hätten mit Duldung der zuständigen Behörden dafür gesorgt, daß wirksame Maßnahmen zum Schutz Tausender von Patienten unterblieben.
Im bösen Schatten der Kartelle und Komplotte vollzog sich der Untergang der Opfer … Viele blieben stumm, schwiegen aus Scham, an der ›Schwulen-Pest‹ zu leiden, andere verzichteten gegen erbärmliche Summen auf ›jeden Anspruch gegenüber Dritten‹, während bereits wieder neue Opfer über Industriepräparate angesteckt wurden … Die Bluterkrankheit beruht auf einem angeborenen Mangel an dem Gerinnungseiweißfaktor VIII. Die Folge: Das Blut verdickt sich nicht, kommt nicht zum Stillstand. Die Herstellung der F-VIII-Präparate wurde zum großen Geschäft …
Über viele verhängnisvolle Jahre hinweg wehrten sich jedoch nicht nur die Faktor-VIII-Hersteller, sondern auch die Plasma- und Blutbanken mit allen Mitteln gegen die Kontrollauflage, das aus unkontrollierten Quellen stammende Blut müsse geprüft werden. Das Ergebnis war: Der Aids-Tod hielt seinen Einzug in die Operationssäle …
Den Verantwortlichen der Industrie wie der Aufsichtsbehörden mußte spätestens seit dem Frühjahr 1983 klar sein, daß die Aids-Seuche für die Produktion von Blutpräparaten katastrophale Folgen haben konnte und daß es deshalb allein darum gehen konnte, unschuldige Opfer vor dieser Springflut des Todes zu schützen. Es gab die Waffen: Die Möglichkeit, Blutprodukte zu sterilisieren, bestand seit Jahren und war schon wegen der Gefahren der Hepatitisinfektion von Bedeutung geworden.
Aber ob Gelbsucht oder Aids, die Industrie lief gegen alle Auflagen Sturm, die ihre ›wirtschaftliche Freiheit‹ beeinträchtigte. Unter ihrem Druck sprach schließlich selbst das Bundesgesundheitsamt von einem ›vernachlässigbaren Restrisiko von eins zu einer Million‹.
Endlich, nachdem immer mehr Menschen sich infiziert hatten, wurde 1985 die allgemeine Dekontammierung angeordnet. Aber selbst dann, und weit bis in das Jahr 1986 hinein, verzichtete man auf eine Kontrolle der Durchführung.
Schließlich wurde sie eingeführt, und schon zeigte sich an neuen Todesfällen, wie lückenhaft die Auflagen befolgt wurden.
So entstand die größte Arzneimittelkatastrophe der Geschichte, gleichzeitig aber auch ein menschliches Drama, das ungezählten Unschuldigen, ob Patienten oder infizierten Angehörigen, Glück und Leben raubte und wie kein anderes die Abgründe menschlicher Profitgier und Gleichgültigkeit auszuleuchten vermochte.
Zehn Jahre hatte es bei uns gedauert, bis endlich ein Minister den Mut fand, den Augiasstall auszumisten … Der Todesschatten ›HIV-Virus‹ schien über alle Bürger zu fallen. Der große Aids-Skandal war geboren
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