Die Blutmafia
Thema beschäftigt! Es gab doch Zahlen! Eine davon hatte er noch ganz klar im Kopf. Sie lautete: »Bei Schwangeren wird die Wahrscheinlichkeit einer Übertragung des HIV-Virus der Mutter auf das ungeborene Kind auf fünfzehn bis zwanzig Prozent eingeschätzt.«
Woher hast du das? Richtig: Letztes Jahr, Juni … Olsen wollte eine Serie über Aids-Kinder bringen, bekam aber zum Glück dann doch kalte Füße und ließ die Finger davon.
Rio allerdings hatte mit den Recherchen schon begonnen und dieses Kind besucht … Wie hieß es noch? Angela … Auch noch Angela! Fünf Jahre alt. Ein Gesicht, das nur noch aus mit Haut bespannten Knochen bestand. Das Gesicht eines winzigen Greises. Aber die Augen! Diese großen Augen …
»Höchstens noch zwei Wochen«, hatte die Frau gesagt, die es streichelte. »Dann hat sie alles hinter sich …«
Es war schrecklich gewesen! Die Stille. Die zugezogenen Vorhänge. Der Geruch der Medikamente. Und die Frau, die sich über das Kind beugte und mit beiden Händen den Kopf umschloß. Angela – er hatte gedacht, ›Engel‹ heißt das. So sehen Engel aus …
»Das Schlimmste«, sagte die Mutter, »war nicht die Krankheit, das waren die Menschen. Im Kindergarten haben die anderen Kinder sie getreten, stellen Sie sich das vor … ›Aids-Bankert‹ haben sie geschrien. Und die Heimleiterin meinte, Kinder seien nun mal so. Da sei nichts zu machen. Sie war froh, daß ich Angela wieder nach Hause nahm. Und dann die Anrufe, die Briefe: ›Euch fackeln wir noch alle ab.‹ – ›Ihr gehört vergast.‹ – und so weiter …«
Sie sprach ganz ruhig. Ihr Name war Bühler – ja, Ursula Bühler. Von Beruf war sie Schmuck-Designerin. Sie hatte keinen Mann, doch sie hatte Angela adoptiert, als die Kleine sieben Monate alt war. Jetzt sagte sie: »Ich dachte, irgendwie schaffen wir beide das. Irgendwie kommen wir durch. Und jetzt … jetzt bin ich froh, daß es bald vorüber ist …«
Rio Martin erinnerte sich nicht, einen Menschen je so bewundert zu haben wie diese ruhige, stille Frau in dem abgedunkelten Zimmer.
»Trotz allem, Sie können mich für verrückt halten oder nicht: Die Jahre mit ihr waren die schönste und die wichtigste Zeit meines Lebens. Ich habe so viel gelernt …«
Er trocknete sich ab, rasierte sich, massierte das Gesicht, stieg in irgendwelche Freizeitklamotten, setzte den zweiten Kaffee des Morgens auf und fühlte sich dennoch nicht besser.
Die Unterlagen von damals mußten irgendwo im Archiv liegen. Nur – wo? Es ging nicht um Angela, nicht um ein Kind, es ging um die Zahlen. Wenn die Reissner-Story in diesen Rahmen paßte, würde sie tatsächlich interessant werden. Wo nur, Himmelherrgott noch mal, hatte sich der Mann angesteckt?
Rio Martin zog Schubladen auf, stöberte in Hängetaschen, wühlte sich durch Aktenhefter – vergeblich. Er nahm nochmals eine Tasse Kaffee, begann von neuem – und wurde fündig: Hier! Das Aids-Material! Tonbandabschriften, Presseverlautbarungen, Zeitungsausschnitte. Alles in einem alten, stabilen Karton verstaut, der einst Büchsenmilch enthalten hatte und ihm nun als Endstation für Unterlagen diente, die er noch nicht ganz für abfallreif befunden hatte.
Er stellte den Karton auf den Tisch.
Und gerade als er ihn ausräumen wollte, läutete die Türklingel. Die Optik des Türspions verzerrte das kantige Gesicht Bruno Arends zu einer Art Frankensteinfratze.
Rio öffnete wortlos.
»Na endlich«, knurrte Bruno und ging an ihm vorbei.
Rio folgte ihm ins Wohnzimmer. Bruno Arend war gut einen Kopf größer als er, Ringerschultern, ein mit Liebe gepflegter Bierbauch; doch mit seinen fast sechzig Jahren machte er einen ganz passablen, ja sportlichen Eindruck.
Er betrachtete Rio kritisch: »So ein scheußliches Spinatgrün! Ja, wie siehst denn du aus, Junge? Vielleicht suchst du dir mal andere Klamotten, oder du gehst zum Arzt.«
»Wieso denn das?«
»Wieso das? Noch nicht in den Spiegel geguckt? – Doch, rasiert bist du ja. Weißt du, wie du auf mich wirkst? Wie der selige Kinski in seinen letzten Jahren.«
»Red doch keinen Scheiß!«
»Den redest doch du! Wer hat mich angerufen? Wie war denn das gestern?«
»Ich weiß. Tut mir leid, ich hab's völlig verschwitzt. Aber es lief plötzlich alles durcheinander. Ich hatte mir noch vorgenommen, dich anzurufen, aber …«
»Ah, hattest du dir das vorgenommen? – Ich bin trotzdem an den See gefahren. Kenn' dich, doch … Heute morgen mußte ich wieder rein, um dem Kleinen die
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