Die Blutmafia
…
Der Satz: ›Der große Aids-Skandal ist geboren‹ stammt von dir, dachte Rio Martin. Du hast doch damals deinen Kommentar im ›N EWS K URIER ‹ so betitelt …
Es war Sonntagmorgen. Und schon spät.
Rio lag in der Badewanne und versuchte nachzudenken. Ein Skandal wie dieser, dachte er, geht zwar ab wie eine Rakete, die Leute regen sich auf, die Auflagen steigen, das Fernsehen überschlägt sich, ein Minister steigt auf die Barrikaden, Köpfe rollen, ein paar Millionen werden an die Opfer verteilt, um ihren Tod in Raten ein bißchen zu erleichtern – und dann ist Schluß. Der nächste Skandal wartet schon an der Ecke. Oder die nächste Korruptionsaffäre, die nächste Wahl, Massenentlassungen, Skins und Asylanten, Rezession, Ärger mit den Mieterhöhungen, Wohnungsnot – oder es kommen einfach nur die neuen TUI- und NUR-Prospekte, die Ferien stehen ja schließlich vor der Tür, denn ein bißchen Entspannung braucht der Mensch, nicht wahr?
Und alles ist vergessen!
So läuft das doch! Wer mit dem Elend leben muß, sollte sich hüten, darüber nachzudenken. Vergessen ist angesagt – nein, Verdrängen. Darin sind wir sowieso Weltmeister. Nur dir ist das nicht erlaubt. Du bist Reporter, und deine Aufgabe bleibt, dir jede Aussage, jedes Detail einzuprägen. So lange wenigstens, bis das Blatt auf dem Markt ist …
Und dann, dann hat sich auch das.
Rio Martin schloß die Augen. Er fühlte sich schlapp. Durch den Entlüftungsschacht draußen vernahm er das Plätschern des Kanals. Das kleine Haus lag hinter einer großen, efeubewachsenen Mauer. Gleich nebenan war der Englische Garten. Rio liebte das alles und segnete fast täglich seine Tante, die Schwester seiner Mutter. Sie hatte ihm das Haus vermacht, einschließlich dieses Monsters von Badewanne, das ihm in schwierigen Lagen mehr und mehr zur Fluchtburg geworden war. Den Bach hörte man kaum, aber die Enten. Die Enten machten Krach, denn drüben an der Brücke begann jetzt die morgendliche Prozession der Spaziergänger. Von oben wurden die Enten mit Brotbrocken bombardiert.
Klar denken, befahl sich Rio. Du hättest, bei Gott, besser eine kalte Dusche genommen nach dieser Nacht …
Kurz nach eins hatte Vera endlich aus Hamburg angerufen, eine äußerst aufgekratzte Vera. Sie hatte gerade eine dieser Hamburger Partys hinter sich gebracht: »Gar nicht steif und langweilig, Rio, sensationell! Das war lustig, sag' ich dir.« Und die Ateliers dort würden auch nicht Ateliers genannt, sondern ›Lofts‹. Und außerdem solle er sich doch mal ehrlich überlegen, was München ihm denn bringe, wo Hamburg doch so viel besser sei. Und was die Presse angehe … »Mensch, ich hab' da jede Menge Zeitungs-Heinis getroffen. Auch jede Menge Kollegen aus meinen Fernsehtagen. Wieso suchst du dir nicht hier ein Blatt, in Hamburg?«
»Aber klar doch!«
»Die zahlen ja auch besser, Rio …«
»Da such' ich mir lieber 'nen neuen Job.«
»Zum Beispiel?«
»Script-Boy oder so was … Gibt's doch auch in männlich, nicht?«
Vera war Script-Girl gewesen und litt noch heute darunter, daß sie es nicht bis zur Regisseurin gebracht hatte.
»Rio? Was hieltest du davon, wenn ich hier noch 'ne Woche dranhänge?«
Das war dann zuviel gewesen. Er hatte den Hörer aufgelegt, um in einen unruhigen Schlaf, dann in einen Alptraum zu verfallen, von dem ihm nur eines haften geblieben war: eine Stimme. Eine hallende Stimme, so als rede von einer hohen Kanzel in einem gewaltigen Dom der Priester. Nein, so als spreche Gott.
Aber es war nicht Gottes Stimme, es war die Stimme dieses sonderbaren Dr. Jan Herzog. Sie sprach von Schuld, von Reue und Schuld: meine, deine, unsere Schuld …
Klar denken! befahl er sich und gab seiner Handbürste einen Schubs, daß sie in Richtung Knie davonschaukelte.
Das Thema heißt: Reissner. Wo hat er sich angesteckt? Was haben wir denn bis jetzt?
Also nochmals: Erstens, Reissner war HIV-positiv …
Zweitens, Reissner war seiner Frau treu, bumste nicht durch die Gegend, war also wenigstens in diesem einen Punkt ein Muster an Sauberkeit.
Drittens, Reissner drehte durch und erschoß sich, nachdem er seine gleichfalls moralische Ehefrau sowie seine Tochter erschossen hatte. Er ging also ganz schön weit. So weit, wie Hysteriker in ihrem Sauberkeitsfanatismus nun mal gehen …
War es das allein? Gab es nicht auch reale Gründe? Und was die Infektionsquelle angeht – wie hoch war die Wahrscheinlichkeit … Himmelarsch, er hatte sich doch schon mal mit dem
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