Die Blutmafia
Ich bin Reporter des N EWS -K URIER .«
»So? Interessant. Und wie ist das … Wäre es möglich, daß Sie hier in Bernhagen irgendwelche Gegner haben?«
Es war genau die Frage, die sich Rio von dem Augenblick an stellte, als ihm aufging, was mit Vera geschehen war. Die Antwort aber war zu abenteuerlich.
»Nein«, sagte er, »ich habe hier keine Gegner.«
»Und Ihre Frau?«
»Die schon gar nicht. Wie denn?« Doch dann, nach einer kurzen Pause der Überlegung, fügte er hinzu: »Wissen Sie, ich habe hier keine persönlichen Gegner. Aber sonst … na ja, Presseleute haben immer Feinde. Das liegt in der Natur der Arbeit …«
Er unterbrach sich und blickte wieder hinüber zum Bett, auf dem Vera lag. Ihr Gesicht wirkte nun vollkommen entspannt, die Augen waren geschlossen. Doch er erkannte den bläulichen Fleck, der sich unterhalb ihres linken Jochbeins zum Hals hinab zog. Seine Hände verkrampften sich, und er wußte, daß er, solange er auch lebte, diese Nacht nicht vergessen würde. Und noch etwas wußte er jetzt: Für ihn war sie noch nicht zu Ende …
»Ihr Whisky.«
Der Barkeeper schob Rio das Glas zu und verzog sich wieder zu seiner Zeitung und zu seinem Plattenspieler. In der diskret beleuchteten Hotelbar saßen drei Pärchen und er. Er aber war kein guter Gast. Den Whisky allerdings brauchte er. Er mußte mit seiner Nervosität fertig werden, irgendwie, auch mit der Erschöpfung. Hunger fühlte er schon längst keinen mehr. Und sein Magen wollte alles andere als Whisky. Aber was sollte es? Die Beutel ihrer ›Bio-Med‹-Beute lagen in irgendeinem Hoteleisfach. Oben, in Zimmer 412, hatte es sich Bruno bequem gemacht, indem er einfach die Diwankissen auf den Teppich gelegt und sich fluchend darauf ausgestreckt hatte. Falls Vera irgendwann in dieser Nacht erwachte, hatte sie wenigstens Bruno. Er aber … Wie kann ein Mensch normal bleiben, wenn die Irren los sind? Was sollte er im Bett? Er würde sowieso nicht schlafen können. Er mußte nachdenken. Er mußte handeln. Und zuvor trank er das Glas leer.
Es wurde ihm besser.
Rio kannte die Nummer auswendig. Er hatte sie sich schon auf der Rückfahrt immer wieder vorgebetet – und dann doch nirgends gehalten, um anzurufen.
Und jetzt, jetzt war es Mitternacht. Erheblich nach Mitternacht. Zwölf Uhr fünfundvierzig … Verdammt spät, um jemanden anzurufen.
»Kann ich mal das Telefon haben? Und wenn Sie so nett wären, die Musik ein bißchen leiser zu stellen … Dauert nicht lange.«
»Oben in der Halle gibt's eine Kabine, mein Herr.«
Vielleicht gab's oben in der Halle eine Kabine. Nur, er hatte keine Lust, vom Hocker zu rutschen und hinaufzusteigen.
»Bringen Sie mir lieber einen zweiten Whisky.«
Der Barmann stellte den Apparat tatsächlich leiser und brachte auch den zweiten Whisky. Rio wählte. Nichts. Freizeichen, wie am Nachmittag … Freizeichen ohne Ende. Er legte auf. Er versuchte es wieder. Das Resultat blieb das gleiche.
Den zweiten Whisky trank er nur bis zur Hälfte. Er unterschrieb die Rechnung, und während er in der Außentasche seiner Lederjacke nach dem Trinkgeld kramte, ertasteten seine Fingerspitzen einen zweiten Zettel. Richtig, der gehörte auch dazu. Dies war Dagmars Adresse. Der nette Herr Weigert hatte sie für ihn herausgefunden. Er legte sie neben die Nummer. ›Oprechtstraße 27‹, stand da drauf.
Er stieg die Treppen hoch. Der junge Blonde am Empfang hob die Hand, es war eine der teilnahmsvollen Bewegungen, die man bei Beerdigungen beobachten kann. »Gute Nacht, Herr Martin.«
Von wegen! Soweit war er noch nicht!
»Sagen Sie mal, kennen Sie die Oprechtstraße?«
»Ja, Herr Martin. Das ist gar nicht weit entfernt von hier. Wenn Sie sich nach der Ausfahrt links halten – hier …«
Er faltete eine Stadtkarte auseinander und deutete mit dem Bleistift auf einen Punkt: »Hier sind wir. Und das ist die Oprechtstraße. Fünf Kilometer, würde ich sagen.«
Es mußten weniger gewesen sein. Rio brauchte keine fünf Minuten und war dabei noch im Schrittempo an einer Baustelle mit einem großen Kieshaufen vorbeigefahren: Der Ort, an den dieses Schwein Vera verschleppt hatte, um sie zu quälen …
Hier stand es: ›Oprechtstraße‹. Rechts erstreckte sich freies Feld. In der Ferne huschten Lichter auf der Autobahn vorbei. Links – Häuser. An der Einfahrt, die zum letzten dieser Häuser führte, las Rio: R EICHENBACH . Die breite Maschentür der Hofeinfahrt stand einen Spalt offen.
Er stieg aus und drückte sie auf.
Das
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