Die Börse (German Edition)
Vorhaben, das leidenschaftliche Seelen gut kleidet. Ist das nicht die vollkommenste Hingebung in ihrer höchsten und holdesten Form? Liegt nicht eine gewisse Größe darin, daß man stark genug liebt, um auch da noch zu lieben, wo die Liebe bei andern erlischt und erstirbt? Hippolyte setzte sich in seinem Atelier hin, betrachtete sein Bild, ohne etwas daran zu machen, denn er sah die Gesichter darauf nur durch die Tränen hindurch, die seine Augen verschleierten, während er beständig den Pinsel in der Hand hielt, sich der Leinwand näherte, um einen Ton zu mildern, und doch nicht daran rührte. In dieser Stellung überraschte ihn die Nacht. Die Dunkelheit weckte ihn aus seiner Träumerei, er ging hinunter, begegnete dem alten Admiral auf der Treppe, warf ihm beim Grüßen einen traurigen Blick zu und flüchtete davon. Er hatte die Absicht gehabt, zu seinen Nachbarinnen hinein zu gehen, aber der Anblick des Beschützers Adelaides verursachte ihm ein eisiges Gefühl und ließ ihn sein Vorhaben aufgeben. Zum hundertsten Male fragte er sich, welches Interesse diesen reichen alten Mann mit achtzigtausend Franken Renten in diesen vierten Stock hinaufführen konnte, wo er jeden Abend gegen vierzig Franken verlor; und er glaubte dieses Interesse zu ahnen. Am nächsten und an den folgenden Tagen stürzte sich Hippolyte in die Arbeit und versuchte, seine Leidenschaft durch die eifrige Beschäftigung mit seinen künstlerischen Ideen und durch das Versenken in ihre Konzeption zu bekämpfen. Aber es gelang ihm nur halb. Die Arbeit gewährte ihm Trost, aber er vermochte nicht, die Erinnerung an die vielen süßen Stunden, die er mit Adelaide verbracht hatte, auszulöschen. Eines Abends, als er sein Atelier verließ, fand er die Tür zur Wohnung der beiden Damen offen. Eine Person stand in der Fensternische. Die Tür und die Treppe lagen so, daß er nicht vorbeigehen konnte, ohne Adelaide zu sehen; er grüßte kühl und richtete einen gleichgültigen Blick auf sie; da er aber den Kummer des jungen Mädchens nach dem seinigen beurteilte, erbebte er innerlich, wenn er bedachte, welche Bitterkeit dieser Blick und diese Kühle einem liebenden Herzen verursachen mußten. Sollte er das süßeste Glück, das jemals zwei reine Seelen genossen hatten, mit der Vernachlässigung in diesen acht Tagen und der tiefsten völligen Verachtung beendigen? ... Was für eine schreckliche Lösung! Vielleicht hatte sich die Börse doch gefunden, und vielleicht hatte Adelaide ihren Freund an jedem Abend erwartet? Dieser so einfache und so natürliche Gedanke verursachte dem Liebenden neue Gewissensbisse; er fragte sich, ob die Beweise der Zuneigung, die ihm das junge Mädchen gegeben, ob das reizende Geplauder voller Liebe, das ihn entzückt hatte, nicht wenigstens eine Untersuchung verdienten und eine Rechtfertigung wert waren. Er schämte sich, daß er eine Woche lang seinem Herzenswunsche Widerstand geleistet hatte und sah in diesem Kampfe fast ein Verbrechen; und so begab er sich noch an demselben Abende zu Frau von Rouville. All sein Verdacht, alle seine schlimmen Gedanken verflüchtigten sich, als er das blasse, abgemagerte Mädchen erblickte.
»Mein Gott, was fehlt Ihnen denn?« sagte er, nachdem er die Baronin begrüßt hatte.
Adelaide antwortete nicht, aber sie warf ihm einen Blick voll von Melancholie, einen traurigen, hoffnungslosen Blick zu, der ihm weh tat.
»Sie haben gewiß viel zu arbeiten gehabt«, sagte die alte Dame, »man sieht es Ihnen an. Wir sind wohl die Ursache für Ihre Zurückgezogenheit. Das Porträt wird Arbeiten, die wichtig für Ihren Ruf sind, verzögert haben.«
Hippolyte war glücklich, eine so gute Entschuldigung für seine Unhöflichkeit gefunden zu haben.
»Jawohl,« sagte er, »ich war sehr beschäftigt, aber ich war auch leidend ...«
Bei diesen Worten erhob Adelaide den Kopf, sah den Geliebten an, und in ihrem beunruhigten Blicke war kein Vorwurf mehr zu lesen.
»Haben Sie denn angenommen, daß das, was Sie Gutes oder Böses erleben, uns ganz gleichgültig ist?« sagte die alte Dame.
»Es war nicht recht von mir. Immerhin gibt es Kummer, den man niemandem, wer es auch sei, anvertrauen kann, selbst einer weniger jungen Freundschaft, als die ist, mit der Sie mich beehren ...«
»Echte und warme Freundschaft sollte man nicht nach der Zeit bemessen. Ich habe gesehen, daß alte Freunde im Unglück nicht eine Träne für den andern übrig hatten«, sagte die Baronin kopfschüttelnd.
»Aber was fehlt Ihnen
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