Die böse Brut
faszinierend. Die perfekten Flügel mit den samtweichen Federn wuchsen aus den Schultern hervor und passten sich dem Körper an, der mit viel kräftigeren Muskeln und auch einem wesentlich breiteren Brustkorb ausgestattet war.
Stärkere Lungen, ein kräftigeres Schlüsselbein, härtere Knochen – das alles gehörte dazu, und Maxine war irgendwie stolz auf Carlotta.
Das Mädchen seufzte.
»Was ist denn?«
»Die Nacht ist so wunderschön, Max...«
»Ich weiß.« Die Tierärztin wartete ab, ob Carlotta noch etwas sagte, aber es kam nichts mehr. Dabei wusste sie schon, weshalb ihre Ziehtochter in den Garten gekommen war. Nicht grundlos hatte sie diese wunderbare Nacht erwähnt, denn für sie war sie ideal.
Flugwetter, hätte man sagen können. Warm, ein schwacher Wind, die Luft erfüllt von sommerlichen Gerüchen, so wunderbar weich, als wäre sie vom Atem der Engel gefüllt worden.
Carlotta drehte sich um. Das Haar schimmerte sehr hell vor dem dunklen Hintergrund. Ein feingeschnittenes Gesicht, liebe Augen, ein Mund, der gern lächelte.
»Du möchtest fliegen, nicht?«
»Ja, gern.«
Maxine zog die Stirn kraus. Sie war nicht begeistert davon, aber nicht, weil sie Carlotta den Flug nicht gönnte, sondern weil auch in der Nacht Gefahren lauerten und sie ebenfalls entdeckt werden konnte, wenn sie nicht aufpasste.
Das war schon einige Male passiert. Nur hatten es die Menschen dann nicht geglaubt und an eine Einbildung gedacht.
Carlotta war für den Flug bereit. Sie trug eine lange dunkle Hose und ein wollenes Oberteil, das am Rücken zwei Löcher für die Flügel aufwies.
»Du kannst ja mitkommen, Max!«
Sie lockte damit. Es war nicht einfach nur dahingesagt worden. Carlotta war kräftig genug, um einen Erwachsenen aufladen zu können. Das hatte Maxine schon mehrmals erlebt, aber auch John Sinclair war in diesen Genuss gekommen.
»Willst du?«
»Nein, heute Nacht nicht.«
»Schade.«
Maxine reckte sich. »Ach, Kind, ich sitze hier gerade so gut, der Wein schmeckt mir, und ich habe mir vorgenommen, bis Mitternacht im Garten zu bleiben.«
»Das ist noch eine Stunde.«
»Genau. Sogar etwas mehr.«
»Bis dahin bin ich wieder zurück.«
Die Tierärztin lächelte, auch wenn es ihr schwer fiel. Sie war realistisch genug, um sich einzugestehen, dass sie Carlotta den Flug nicht verbieten konnte. Nur dass sie sich Sorgen machte, wenn das Mädchen unterwegs war, das konnte ihr niemand verdenken, und so gab sie mit einem Nicken ihr Einverständnis.
»Aber du weißt Bescheid...«
»Ja, Max, ich weiß. Ich halte mich von allen Gefahren fern, falls es sie überhaupt gibt.«
»Gefahr ist immer da.«
»Danke.« Carlotta lief auf Max zu und umarmte sie. Es war zu spüren, welch eine Kraft in diesen Armen steckte, und Maxine spürte dann die weichen Lippen des Mädchens an ihren Wangen.
»Bis gleich.«
»Pass auf dich auf.«
»Klar.«
Carlotta trennte sich von ihrer Ziehmutter. Sie drehte sich schwungvoll um die eigene Achse, wobei sie den Kontakt mit dem Boden noch beibehielt.
Ein letztes Winken, dann lief sie los.
Carlotta lief leichtfüßig einige Meter über den Rasen hinweg. Ein Flugzeug rollte über die Startbahn, sie aber lief und hatte vier Schritte hinter sich gebracht, als sie in die Höhe sprang.
Augenblicklich breitete sie die Flügel aus, und dann befand sich Carlotta in der Luft. Zwei, drei Schläge mit den Flügeln reichten ihr aus, um Baumhöhe zu erreichen. Carlotta flog einen Kreis über den Garten und schaute dabei nach unten. Noch einmal winkte sie der Tierärztin zu, dann flog sie davon, hinein in den dunklen Himmel, als wollte sie irgendwelchen Engeln einen Besuch abstatten...
***
Die Kirche war für einen Jungen wie Damiano ein fremdes Gelände. Er wusste nicht, wohin er sich orientieren sollte, und deshalb blieb ihm nichts anderes übrig, als einfach loszulaufen.
Hinter sich hörte er die wilden Flüche und auch die Schreie der Männer, um die er sich nicht kümmerte. Es war ihm egal, was da passierte, seine Flucht und seine Freiheit waren ihm wichtiger.
Er mochte keine Kirchen, aber er hasste sie auch nicht. Er war noch nicht so weit wie die anderen, aber er wusste auch, dass er ein wichtiges Glied in der Kette war.
Und er hatte jetzt erlebt, wie grausam sie sein konnten. Sie hatten den Menschen, der ihm hatte helfen wollen, kurzerhand getötet. Das hatte bei ihm einen Riss hinterlassen. Er fühlte sich seelisch verwundet, und dies wiederum zeigte, dass er noch nicht ganz zu ihnen
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