Die böse Brut
einen in der Mitte. Es war kein Kies gestreut worden, und so kam er relativ leise voran. Es kribbelte auf seinem Rücken, als liefen dort zahlreiche Spinnen entlang. Er merkte den Druck im Magen, er merkte ihn in der Kehle, und sein Gefühl machte ihm klar, dass er den Häschern noch nicht entkommen war, auch wenn er sie nicht sah.
Der Friedhof schwieg. Ein Totenfeld hatte nichts mehr zu sagen. Auch wenn sich hin und wieder etwas bewegte, aber das waren nur die dünnen Zweige der Büsche, mit denen der Wind gespielt hatte. Ansonsten sah er weder ein Tier noch einen Menschen.
Manche Grabsteine ragten so hoch, dass er sich locker dahinter verstecken konnte. Aber sie besaßen auch die richtige Größe für einen Erwachsenen, und daran dachte er nun nicht gerne.
Das Ende des Friedhofs war nicht zu sehen. Er glaubte, es nur dort zu finden, wo auch die Trauerweiden standen wie verloren wirkende Wächter über das Reich der Toten.
Er fühlte sich jetzt besser. Er ging auch schneller. Seine Augen waren in Bewegung, und sie suchten den Weg vor ihm ab.
Und dann war der Mann da!
Urplötzlich. Wie eine Gestalt, die sich aus der Hölle materialisiert hatte, stand sie vor ihm und sorgte dafür, dass der Junge abrupt verharrte.
Damiano blieb still. Auch der Mann mit der Sonnenbrille sagte nichts. In dieser Umgebung wirkte er noch schlimmer als sonst, noch größer und brutaler.
Der Junge hörte seinen eigenen Herzschlag überlaut. Er wischte mit dem linken Handrücken über seine Augen hinweg, als wollte er ein Trugbild vertreiben. Das schaffte er nicht, denn die Gestalt zwischen den Gräbern blieb.
Als Damiano hinter sich das leise, aber harte Lachen hörte, wusste er, dass die Falle endgültig zugeschnappt war, denn jetzt war ihm jeglicher Ausweg versperrt.
All seine Bemühungen und Anstrengungen hatten nichts genutzt. Die andere Macht war stärker gewesen, viel stärker sogar. Wie hatte er auch annehmen können, seinen Häschern zu entfliehen? Sie hatten immer das Böse proklamiert und hatten darauf gesetzt, dass das Böse stärker war als das Gute, und nun hatte er die Quittung bekommen.
Damiano tat nichts und stand wie ein gehorsamer Zögling eines Elite-Internats auf der Stelle. Er nickte nicht. Er gab keine Antwort, und er hielt die Hände vor dem Bauch verschränkt. Zu einer anderen Reaktion war er nicht fähig.
»Komm wieder mit«, sagte der Mann vor ihm, als wäre dies alles normal und als hätte es die letzte Jagd nicht gegeben, sondern nur eine kurze Unterbrechung des Zusammenseins.
Damiano hob den Blick. Der Mörder des Pfarrers hatte zu ihm gesprochen. Der Junge glaubte, das Eis und die Kälte hinter der Sonnenbrille in den Augen zu sehen.
»Du gehörst zu uns und nicht woandershin. Weder in eine Kirche noch auf einen Friedhof. Dorthin vielleicht irgendwann einmal, aber dann auf einen ohne Kreuze.«
Damiano nickte. Er hatte verloren, und genau das machte ihn leider schwach. Auch wenn er sich drehte, er würde nicht weglaufen können, denn der Zweite stand hinter ihm wie eine Wand. Er musste sich überwinden, um eine Frage stellen zu können.
»Wohin sollen wir denn gehen?«
»Zum Auto.«
»Und dann?«
»Wir fahren wieder zu uns!«
Damiano schrak zusammen. Zu uns! Wie er das hasste. Das wollte er nicht! Er schlug die Augen nieder. Seine Hände bewegten sich zuckend, bevor sie sich zu Fäusten ballten.
Eine Hand legte sich auf seine rechte Schulter. Sie fühlte sich schwer wie ein Stück Eisen an. Der Typ vor ihm lächelte so verdammt giftig. Er streckte dabei seine linke Hand vor und berührte mit den Fingern das Kinn des Jungen.
»Du bist unsere Hoffnung, Kleiner. Wir setzen auf dich. Das darfst du nie vergessen.«
»Du hast ihn getötet«, sagte Damiano mit tonloser Stimme. »Du hast auf ihn geschossen. Er hat dir nichts getan. Warum denn? Ich will es wissen, weil ich es nicht begreifen kann.« Seine Stimme hörte sich leise und krächzend an.
»Du musst endlich begreifen, dass Menschen wie der Pfarrer unsere Feinde sind. Sie stehen auf der anderen Seite. Sie verfolgen uns. Sie wollen nicht, dass wir existieren, und darauf müssen wir eben reagieren, mein Kleiner. Das war schon immer so. Zu allen Zeiten. Es gibt einmal uns und dann die anderen.«
Damiano schwieg. Er hätte viele Fragen gehabt, aber er wusste auch, dass er keine befriedigende Antwort bekommen würde. So musste er sich fügen.
Die Hand, die noch immer auf seiner Schulter lag, drehte ihn herum. Der Junge unternahm erst gar
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