Die Bogenschützin: Roman (German Edition)
sah zu ihr herüber, seine Miene fassungslos und möglicherweise wütend, aber das konnte sie nicht genau erkennen und wollte es auch nicht. Entschlossen setzte sie ihren Weg fort. Hinter der nächsten Kurve wies nichts darauf hin, dass es gefährlicher wurde als vor dem Unglück. Es schien allmählich leicht bergab zu gehen, doch das Wegstück, das sie überblicken konnte, war zu kurz, um sicher zu wissen, ob sie sich darin nicht täuschte. Daher ging sie noch weiter, bis der Ausblick sie erleichtert aufjauchzen ließ. Stetig und nicht zu steil schlängelte sich der Pfad von nun an hinunter in die Klamm, deren Ende bereits sichtbar war. Der Abstieg würde hart genug werden, doch vor Einbruch der Dunkelheit zu schaffen sein.
Froh kehrte sie um und geriet etwas aus dem Gleichgewicht, als Steinchen unter ihrem Fuß ins Rollen kamen. Der kleine Schreck bewirkte nicht mehr, als sie daran zu erinnern, dass sie vorsichtig bleiben musste. Sie hätte ihn sogleich wieder vergessen, wenn nicht gerade in diesem Augenblick Wilkin um die Kurve gekommen wäre. Er bewegte sich mit vollendeter Sicherheit, hatte es offensichtlich nicht einmal mehr nötig, den Arm zum Berg hin zu strecken, so wie sie. Nur war sein Gang nicht so leicht und federnd wie sonst, was Hedwig seiner Krankheit zuschrieb. » Ich wollte gerade zurückkommen. Es ist alles in Ordnung. Da hinter der Kurve…«
Er erreichte sie, umfasste schmerzhaft fest ihren Arm und sah ihr mit einem Blick in die Augen, der sie frösteln ließ. » Tu so etwas nie wieder. Nie!«
Hätte er es liebevoll gesagt oder besorgt, so wie nach der Sache mit den wildernden Hunden, wie sein Vater es früher getan hatte, wenn sie etwas Dummes anstellte, dann hätte Hedwig ihn um Verzeihung gebeten. Doch dieses Mal klang er wütend und herrisch. Hedwig sah ihn nicht länger an, sondern folgte mit dem Blick einem großen Raubvogel, der neben ihnen über der Klamm dahinflog, und beneidete das Tier. Hier oben mit Wilkin zu streiten, was das Letzte, was sie wollte, doch ihr Stolz befahl ihr zu widersprechen. Sie holte tief Luft.
» Ich habe vielleicht noch nicht viel Zeit in den Bergen verbracht, aber ich bin die Leichteste von uns allen und war daher am wenigsten in Gefahr. Du hättest bei den anderen bleiben und auf mich warten sollen.«
» Ich hätte…?« Seine fieberglänzenden Augen weiteten sich, und sein Griff um ihren Arm wurde noch schmerzhafter. » Du bist so unbedacht wie ein Kind. Tust, was dir in den Sinn kommt. Deine Leichtfertigkeit kann nicht nur dich in Gefahr bringen, sondern uns alle. Du hast dein Pferd allein gelassen, ich musste meines allein lassen, um dir zu folgen. Wenn etwas geschieht…«
Mit einem Ruck entwand Hedwig ihm ihren Arm. » Du tust mir weh. Und du vergeudest Zeit. Unsere Pferde würden längst nicht mehr allein dastehen, wenn du mir nicht so überflüssig gefolgt wärest.« Rasch ging sie an ihm vorbei und eilte den Pfad zurück, ohne den Arm auszustrecken, den Abgrund in ihrer Wut vergessend. Als böte ihr die Lage keinen Schrecken mehr, drängte sie sich zwischen Pferden und Berg hindurch nach hinten. » Alles in Ordnung. Es geht gleich weiter. Ich rufe, wenn ich so weit bin«, sagte sie dem Knecht, doch bei Irina verharrte sie. Ihre Freundin stand genauso da wie zuvor, die Augen geschlossen. » Es wird besser, Irina. Der Abstieg beginnt gleich. Bald sind wir im Tal.«
Irina wimmerte leise und öffnete mit sichtlicher Mühe die Augen. » Ich kann mich nicht bewegen. Ich kann keinen Schritt weiter.«
Hedwig strich ihr über den Arm. » Aber gewiss kannst du. Gerade du musst keine Angst haben. Niemand bewegt sich so sicher und geschickt wie du. Du kannst auf einem Seil tanzen.«
Irina schüttelte den Kopf und schloss die Augen wieder. » Sprich nicht davon. Das ist etwas ganz anderes. Glaub mir, ich kann meine Beine nicht bewegen.«
» Aber… lieber Herr im Himmel, was… Willst du weiterreiten? Ich denke, es wäre besser, es nicht zu tun, aber…«
» Ich kann gar nichts. Ich werde die Augen nie wieder öffnen.«
Hedwig betrachtete ungläubig die kleine Frau, deren Gewandtheit und Leichtfüßigkeit sie stets bewundert hatte, und seufzte schließlich. » Also gut. Warte, ich komme gleich wieder.«
Ihr Schwarzer begrüßte sie mit dem freundlichen, dumpfen Brummen, das er Freunden vorbehielt. Sie klopfte ihm den Hals und ging weiter nach hinten, zu Hüx. Nachdem sie auch diesen beruhigt hatte, erklärte sie ihm Irinas Zwangslage. » Ich werde sie
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