Die Borgia: Geschichte einer unheimlichen Familie (German Edition)
Handhaben dafür waren schnell parat. Alle Adelsfamilien des Kirchenstaats waren dem Papst, ihrem Lehnsherrn, theoretisch Dienste und Abgaben schuldig, doch waren diese Verpflichtungen jahrhundertelang kaum je eingefordert worden. Selbst die Urkunden, in denen diese Leistungen festgelegt worden waren, mussten häufig als verschollen gelten. Verstöße gegen die oft unklar fixierten Konditionen der Lehensübertragung ließen sich mithin mühelos konstruieren. So sahen sich die großen Adelssippen des Kirchenstaats immer dann, wenn ein energischer Pontifex maximus auf seine Rechte pochte, als «Rebellen gegen die Kirche» angeklagt und in der Regel feierlich exkommuniziert. Damit hatten sie im Lauf der Zeit zu leben gelernt. Doch am Ende des 15. Jahrhunderts war das Machtpotential der Päpste deutlich gestiegen. Die Borgia waren entschlossen, diesen Kampf mit allen zur Verfügung stehenden militärischen und ideologischen Mitteln bis zur Vernichtung der Gegner zu führen.
Wiederherstellung des Kirchenstaats, Rückgabe usurpierter Kompetenzen und Ressourcen, Wiedereinsetzung des Heiligen Stuhls in seine legitimen Rechte: Mit diesen Parolen versuchte Alexander VI., die italienische Öffentlichkeit auf seine Seite zu ziehen. Dass er diesen Krieg nicht für die Größe des Papstamts, sondern ausschließlich zur Stärkung seiner Familie führte, blieb indes nicht lange verborgen. Beide Ziele widersprachen sich diametral, denn alles das, was Nepotenfamilien an dauerhafter Machtstellung gewannen, ging den künftigen Päpsten verloren. Eine solche «Patrimonialisierung», das heißt Aufteilung des Herrschaftsgebiets in «Familienterritorien», musste früher oder später das Ende der päpstlichen Herrschaftsstellung bedeuten. So kämpften die Borgia bei der Zurückdrängung der römischen Barone nicht für die Stärkung des Kirchenstaats, sondern für dessen Schwächung und dauerhafte Kontrolle. Dass sich in diesen endlosen Verschleißkriegen am Ende alle Konkurrenten so gravierend schädigten, dass die Päpste die lachenden Dritten wurden, hatte niemand gewollt oder auch nur vorhergesehen.
Alexander VI. kündigte im Konsistorium selbst an, dass er diese Auseinandersetzungen rücksichtsloser führen würde als alle seine Vorgänger: Er wolle, so erklärte er, gegen alle pflichtvergessenen Barone gemeinsam vorgehen. Davon konnten ihn die entsetzten Kardinäle schließlich abbringen. Da die Colonna weiterhin den Schutz der Sforza genossen, war klar, dass es die Orsini treffen würde. Auf sie schoss sich die päpstliche Propaganda im Sommer 1496 ein. Bevor die Waffen sprachen, mussten jedoch die Reihen der Borgia geschlossen werden. Zu diesem Zweck ließ Alexander VI. seinen Sohn Giovanni im August 1496 nach Rom holen. Er kam, sah und siegte – so meldeten die Berichterstatter am päpstlichen Hof die Ankunft des zwanzigjährigen Nepoten.
In kurzer Zeit hatte der Favorit des Vaters alle Konkurrenten, nicht zuletzt seine Geschwister, ausgestochen: Giovanni hier, Giovanni dort, stets stand er bei feierlichen Anlässen und Zeremonien in der ersten Reihe. Naturgemäß gefiel das nicht allen. Die Blicke richteten sich vor allem auf Cesare: Welche Miene würde er zu diesem für ihn abträglichen Spiel machen?
Die Ehren, die ihm erwiesen wurden, stiegen Giovanni schnell zu Kopf. Mit seinem arroganten Anspruch, dem Papst am nächsten und deshalb vor allen anderen zu stehen, brüskierte er römische Aristokraten und fremde Botschafter gleich reihenweise. Auch den sexuellen Appetit – so das römische Stadtgespräch – hatte er von seinem in dieser Hinsicht unersättlichen Vater geerbt; römische Hausväter fürchteten das Schlimmste für die Ehre ihrer Gattinnen und Töchter.
Der liebevolle Vater auf dem Papstthron war fest entschlossen, aus diesem noch so formbaren Sohn einen echten Edelmann mit allen Tugenden seines Standes zu machen. Was aber stählte mehr als das edle Waffenhandwerk? Damit war der militärisch unerfahrene Giovanni Borgia für eine Schlüsselposition im Krieg gegen die Orsini auserkoren, der sich im Herbst 1496 abzeichnete.
Dass der Krieg um einige Monate verschoben werden musste, hing mit einem weiteren Todesfall in Neapel zusammen. Dort starb König Ferrandino in der Blüte seiner Jahre; mit ihm trat jetzt schon der dritte Herrscher in weniger als drei Jahren von der politischen Bühne ab. Mit der Lebens- und Regierungsfähigkeit der dortigen Souveräne, so der allgemeine Eindruck, ging es rapide bergab.
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