Die Borgia: Geschichte einer unheimlichen Familie (German Edition)
jüngsten Ereignisse naturgemäß die Sforza und die Orsini. Doch weder Herzog Ludovico Sforza noch der Kardinal Ascanio Maria Sforza konnten ein Interesse daran haben, Alexander VI. zum Äußersten zu reizen, so tief er sie auch gekränkt hatte. Lucrezias blamierter Ehemann Giovanni Sforza war kurz zuvor wutentbrannt aus Rom abgereist; ihm war also zuzutrauen, einen Auftragsmörder gedungen zu haben. Doch rächte er sich auf eine andere, ebenfalls sehr wirkungsvolle Weise an seinem Ex-Schwiegervater. Er bezichtigte diesen des Inzests. Er, Giovanni, sei dem leiblichen Vater seiner Gattin bei seiner blutschänderischen Begierde im Wege gewesen, deshalb habe dieser die Ehe mit der fadenscheinigen Begründung aufgelöst, er sei impotent.
Auch die Orsini-Theorie kann bis heute nicht überzeugen. Gerade weil dieser Verdacht so naheliegend und daher gefährlich war, ist ein Auftrag von dieser Seite eher unwahrscheinlich. Die Orsini hatten soeben Frieden mit dem Papst geschlossen und waren bestrebt, diese Atempause so gut wie möglich zu ihrem Vorteil auszunutzen. An einer erneuten Zuspitzung des Streits konnten sie zu diesem Zeitpunkt kein Interesse haben. Wer aber kam dann für dieses Verbrechen gegen das Fleisch und Blut des Papstes in Frage?
Man musste nicht lange suchen, um den Hauptgewinner der Tragödie ausfindig zu machen: Cesare Borgia, Vannozzas ehrgeizigen Ältesten! Er hatte durch die Ankunft seines Bruders Giovanni in Rom zweifellos am meisten verloren, nämlich den Vorrang unter den Nachkommen des Papstes. Hatte er aus Eifersucht seinen jüngeren Bruder ermorden lassen? War seine an diesen gerichtete Warnung, auf der Hut zu sein, nur eine Tarnung? Nach einem Jahr ergebnisloser Recherchen war die Öffentlichkeit davon überzeugt, dass Cesare der Mörder war. Dazu trug auch das Verhalten Alexanders VI. bei: Er ließ die offiziellen Nachforschungen frühzeitig einstellen, ein Prozess wurde nicht eröffnet. War die Suche wirklich ergebnislos geblieben – oder hatte der Papst den Täter im Schoß der eigenen Familie entdeckt?
Da bis heute keinerlei neue Spuren aufgetaucht sind, lassen sich nur Vermutungen anstellen. Cesare war notorisch rachsüchtig und schreckte, wie sich schon bald zeigte, auch vor Gewalt im engeren Umfeld der Familie nicht zurück. Gegen den Brudermord spricht allerdings, dass Alexander VI. eine solche Bluttat nie und nimmer verziehen hätte; und von einer psychischen Abhängigkeit des Vaters vom Sohn oder gar einer Hörigkeit ihm gegenüber konnte weder jetzt noch später die Rede sein. So bleibt die Frage nach der Täterschaft offen.
Umso klarer traten die Folgen des Anschlags zu Tage. Der Borgia-Papst war ins Mark getroffen. Noch drei Tage nach der Todesnachricht konnte er im Konsistorium, vor Kardinälen und Botschaftern, seinen Schmerz kaum zügeln: Er habe den Herzog von Gandía mehr geliebt als das Papstamt! Selbst sieben Pontifikate könnten diesen Verlust nicht wettmachen! Das war die bewegende Klage eines untröstlichen Vaters, doch nicht die Art von Trauer, wie sie einem Pontifex maximus anstand. Vom Stellvertreter Christi dufte man erwarten, dass er sich mit würdevoller Gefasstheit in die unerforschlichen Ratschläge des Herrn schickte, so die Reaktion der Diplomaten. Doch Alexander VI. verstand den Mord an seinem Sohn als einen Anschlag gegen sich selbst und seine ganze Familie. Seit drei Jahrzehnten traten die Borgia zusammen mit ihrem Oberhaupt als erwählte Sippe auf, der Gott in ihrer Gesamtheit die Führung der Kirche übertragen hatte. Diese selbstzugeschriebene Sakralität war zusammen mit den Dolchstößen in Giovannis Kehle und Brust zerstört worden. Zur Trauer gesellten sich daher Angst und Wut.
Die Phase der unkontrollierten Gefühlsausbrüche währte nicht lange. Schon nach kurzer Zeit hatte sich der gramgebeugte Papst wieder in der Gewalt und verhielt sich so, wie man es von einem frommem Haupt der Christenheit erwarten durfte: Er ging in sich und suchte die Schuld auch bei sich selbst. Gott hatte ihm diesen Sohn geschenkt und wieder genommen, vielleicht, so vermutete er in öffentlichen Verlautbarungen, wegen seiner Sünden. Diese göttliche Mahnung wollte befolgt sein. Und so kündigte Alexander VI. den versammelten Kirchenfürsten und auswärtigen Gesandten das umfassendste Reformprogramm seit langem an. Er selbst werde zwar seine Würde nicht niederlegen, doch die wichtigsten Regierungsgeschäfte den Kardinälen übertragen. Urplötzlich schien eine
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