Die Borgia: Geschichte einer unheimlichen Familie (German Edition)
himmlischen Botschaften bedingt seien. Doch diese merkwürdige Unschärfe-Theorie setzte ihn nur noch mehr unter Zugzwang. Als Folge des Erwartungsdrucks hatte er seine Predigten gegen den unrechtmäßigen und ungläubigen Papst in Rom wieder aufgenommen und weiter zugespitzt.
Währenddessen war die Anhängerschaft des Priors von San Marco weiter geschrumpft. Die Auslosung der Stadtregierung entschied so stets aufs Neue über Sein oder Nichtsein des florentinischen Reformators: Wie viele Anhänger, wie viele Feinde und wie viele Neutrale waren unter den zehn Prioren, die in den nächsten zwei Monaten die Geschicke der Stadt bestimmten? Darauf hatte der Papst keinen Einfluss, wohl aber auf die wirtschaftliche Lage der Stadt und damit auch auf die Gemütsverfassung ihrer Einwohner. Ende Februar 1498 drohte er ihnen mit dem Interdikt. Mit dieser Kirchenstrafe wurde den Klerikern ein Berufsverbot erteilt: keine Sakramente für Sterbende und keine Gottesdienste mehr, dazu der Abbruch aller Handelsbeziehungen und die Beschlagnahmung von Waren. Wollten die Florentiner das alles wirklich auf sich nehmen? Die nächste Stadtregierung setzte ein Gottesurteil an, das die Wahrheit über Savonarola ans Licht bringen sollte. War er wirklich der Prophet Gottes oder aber ein geschickter Betrüger? Die auf den 7. April 1498 anberaumte Feuerprobe wurde nach mancherlei Intrigen im letzten Augenblick abgesagt. Savonarola wanderte stattdessen ins Gefängnis und wurde gefoltert. Dabei soll er – so lautete zumindest die Version der Stadtregierung – seine Täuschungen zugegeben haben. Die Botschaften der Madonna, seine Unterredungen mit den Engeln, das alles habe er erfunden und erlogen. Doch auch nach seiner Verbrennung am 23. Mai 1498 auf dem Platz vor dem Stadtpalast glaubten viele Florentiner, vor allem aus dem Mittelstand, weiterhin an die Mission des Propheten und Märtyrers. Alexander VI. aber hatte in diesem Zweikampf auf der ganzen Linie gesiegt.
Der zweite Glücksfall für Alexander VI. war ein Unglücksfall, der sich am 8. April 1498 in Frankreich ereignete. König Karl VIII. stieß auf dem Weg zum Ballspielstadion seiner Residenz in Blois mit dem Kopf gegen einen Deckenbalken und starb kurz darauf, wahrscheinlich an einer Gehirnblutung. Da er keine männlichen Nachkommen hinterließ, ging der Thron an den Chef des Hauses Orléans über, der als König den Namen Ludwig XII. führte. Dieser Herrschaftswechsel hatte für ganz Italien, vor allem aber für Mailand und die Sforza dramatische Konsequenzen. Der neue Herrscher stammte von einer Visconti-Prinzessin ab und begründete damit seine Ansprüche auf das Herzogtum Mailand. Die Eroberung der lombardischen Metropole besaß zu Beginn seiner Regierung die oberste Priorität. Mit den Vorbereitungen für einen Feldzug war daher umgehend zu rechnen. Im Sforza-Kastell zu Mailand ging jetzt die Angst um: Wie sollte man sich gegen diesen übermächtigen Gegner schützen? Ludovicos und Ascanio Marias Panik war für Alexander VI. die höchste Genugtuung. Die Machtverhältnisse hatten sich nach sechs Jahren ins Gegenteil verkehrt: Der einstige «Überpapst» zitterte jetzt vor dem völligen Machtverlust seiner Familie und gierte geradezu nach jedem Hilfsangebot, und sei es noch so vage. Die Borgia hatten die Demütigungen der ersten Pontifikatsjahre nicht vergessen und noch viel weniger verziehen. Jetzt waren sie an der Reihe, mit dem Kardinal und dem Herzog Katz und Maus zu spielen.
Doch es kam für Alexander VI. noch sehr viel besser. Um erfolgreich zu herrschen, war der neue König auf das Entgegenkommen des Papstes angewiesen. Ludwig XII., damals noch Prinz von Orléans im unsicheren dynastischen Wartestand, war von König Ludwig XI., genannt die «große Spinne», mit dessen körperlich schwerbehinderter Tochter Jeanne verheiratet worden. Ziel dieser Verbindung war nicht die Zeugung von fürstlichen Nachkommen, sondern ihre Verhinderung. Der Schwiegervater, der den Bräutigam vor die Alternative Eheschließung oder Ertränkung in der Loire gestellt hatte, wollte keine Konkurrenten für seinen eigenen Sohn Karl VIII. Seine Rechnung war aufgegangen und die Verbindung kinderlos geblieben. Dem versuchte Ludwig XII. jetzt mit allen Mitteln abzuhelfen. Er wollte seine Ehe mit der klugen, im Rufe der Heiligkeit lebenden Königstochter auflösen, das heißt wegen Nichtvollzugs für ungültig erklären lassen, um danach die schöne junge Witwe seines Vorgängers, Anne de
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