Die Borgia: Geschichte einer unheimlichen Familie (German Edition)
Forderung, die der Senat der Kirche seit Jahrzehnten erhoben hatte, der Erfüllung nahe zu sein. Weiter ließ der Papst wissen, die Gesamtheit der Purpurträger werde künftig die höchsten Würden in der Kirche verleihen, und zwar ohne Ansehen von Personen und Netzwerken, allein nach Eignung und Verdienst. Darüber hinaus werde eine Kommission aus sechs bewährten Kardinälen weiterreichende Reformvorhaben ausarbeiten und damit die berechtigten Anliegen der Christenheit berücksichtigen. Dabei solle auch der Stein des Anstoßes schlechthin, die übermäßige Häufung von Pfründen und Einkünften, beseitigt werden. Künftig solle auch für die Kardinäle eine Einkommensobergrenze von 6000 Dukaten jährlich gelten sowie die eherne Regel «Ein Kleriker, ein Bistum». Bei diesem gottgefälligen Werk der Erneuerung werde er, Alexander VI. Borgia, persönlich mit gutem Beispiel vorangehen.
Kirchenfürsten und Botschafter kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus: Das war keine Reform, sondern eine Revolution von oben! Mit einem Schlage würden jetzt alle Desiderate und Postulate erfüllt, die die strengsten Kurienkritiker seit mehr als einem halben Jahrhundert eingefordert hatten – falls der Papst damit wirklich Ernst machte. Doch genau daran kamen schon wenige Tage später begründete Zweifel auf. Die Reformkommission wurde zwar einberufen, doch bereits ihre Zusammensetzung entsprach nicht mehr den hochtönenden Ankündigungen. Mit den Kardinälen Todeschini Piccolomini und Carafa waren zwar die beiden Häupter der Reformpartei vertreten und mit dem greisen portugiesischen Kardinal Jorge Costa ein weiterer Befürworter durchgreifender Erneuerungen, doch die übrigen Mitglieder waren ein Ex-Nepot Sixtus’ IV. und zwei Technokraten der Borgia-Herrschaft. Allzu hoch loderndes Reform-Feuer konnte damit schnell gelöscht werden.
Im Sommer 1497 legte das Gremium seine Vorschläge vor, die auf eine alternative Kirchenordnung ohne Nepotismus und ohne Pfründenhäufung hinausliefen. An die Stelle dieser tiefverwurzelten Missbräuche sollten der Aufstieg durch Verdienste um die Kirche, freier Wettbewerb der Besten und eine einvernehmliche Gewaltenteilung zwischen Papst und Kardinälen treten. Doch schon zum Zeitpunkt seiner Niederschrift war dieses Reformvorhaben gescheitert.
Hatte Alexander VI. jemals an die Umsetzung solcher Ideen gedacht? Dass die Erschütterung über den Tod seines Lieblingssohns die Angst vor dem göttlichen Strafgericht schürte und eine Erforschung seines Gewissens zur Folge hatte, war für scharfsichtige Beobachter wie den venezianischen Botschafter nachvollziehbar. Psychologisch ebenso einleuchtend erschien diesem, dass sich Zerknirschung über das eigene Fehlverhalten schon bald mit dem Hass auf die Feinde und mit dem Willen zur Rache verband. So war der plötzliche Reformeifer des Reformfeindes weder eine reine Gefühlsaufwallung noch pures Machtkalkül, sondern zuerst das eine, dann beides und danach nur noch das andere.
10. Der entfesselte Papst
Die Zeit der Kompromisse und der Rücksichtnahmen war seit dem Mord an Giovanni Borgia vorbei. Für die italienische Öffentlichkeit hatte es den Anschein, als ob der Papst und die Seinen von nun an die Maske ablegten und ihr wahres Gesicht zeigten. Zu dieser Zuspitzung hatte die Ermordung Giovannis offensichtlich beigetragen; die Steigerung der Gewaltbereitschaft ließ sich seit 1498 deutlich an den Strategien der Borgia erkennen. Doch sollte man mit weiterreichenden Theorien vom traumatisisierten und seinerseits traumatisierenden Papst vorsichtig sein, denn es gab noch einen anderen Grund für die zunehmende Gewalt: Durch eine Reihe glücklicher Umstände konnten sich die Borgia um dieselbe Zeit von Fesseln lösen, die sie bislang in ihrem Aktionsradius eingeschränkt hatten.
Das erste dieser Ereignisse war der Untergang Savonarolas. Dazu hatte Alexander VI. durch seine geschickte Verhandlungsführung wesentlich beigetragen. Im Laufe des Jahres 1497 hatte sich der Konflikt zwischen dem Bußprediger und dem Borgia-Papst weiter zugespitzt. Die kühnen Prophezeiungen des Propheten, dass der französische König zurückkehren und ein Strafgericht an der pflichtvergessenen Kurie veranstalten werde, waren nicht Wirklichkeit geworden. Diese Abweichung seiner Vorhersagen vom tatsächlichen Verlauf der Geschichte konnte Savonarola nur durch kurzfristige Verzögerungen erklären, die ihrerseits durch geringfügige Fehler in seinen Übersetzungen der
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