Die Botin des Koenigs reiter2
beschloss, den Schatten zu vergessen. Ihre letzten Begegnungen mit dem Übernatürlichen bewirkten wahrscheinlich, dass sie auch dort Gespenster sah, wo es keine gab. Es hätte nichts Gewöhnlicheres geben können als diesen Stall.
Sie spähte in Kondors Wassereimer. Es war nicht mehr viel Wasser darin, und Strohstücke und tote Fliegen trieben auf der Oberfläche.
Gut, dachte sie. Sie konnte den Eimer säubern und ihn neu füllen – endlich eine Möglichkeit, etwas für ihr Pferd zu tun.
Aber als sie noch einmal in den Eimer schaute, erhob sich ein rauchiger Dunst aus dem Wasser.
»Was …«
Ein grünliches Glühen, wie beleuchtet von einem inneren Licht. Unter dem Wasser, unter den Strohhalmen und toten Fliegen blickten zwei blaugrüne Augen zu ihr auf.
»Nicht schon wieder!«
Die Augen blinzelten, und mit einem flüssigen Schimmern bildete sich ein Gesicht um sie herum, das Gesicht von Lil Ambrioth. Ihr Haar trieb wie Algen unter dem Wasser.
Karigan schluckte einen Schrei herunter, aber sie konnte nicht zurückweichen. Es war, als hielten unsichtbare Hände ihren Kopf über dem Eimer fest. Sie bemerkte, wie Kondor sich hinter ihr bewegte und ihr über die Schulter schaute. Warmer Atem, süß von Getreide, wurde gegen ihre Wange geschnaubt.
Lil Ambrioth blinzelte abermals. Es sieht nicht gut aus, und dennoch unternimmst du nichts.
»Ich …« Ihr Atem ließ kleine Wellen über die Wasseroberfläche zucken, die das Gesicht des Ersten Reiters verzerrten. »Nichts?«
Nichts.
Karigan versuchte, sich von der Macht loszureißen, die sie zwang, in den Eimer zu schauen, aber sie konnte nicht. Das war Wahnsinn. »Ich war – ich war sehr beschäftigt.« Sie wusste nicht, was seltsamer war: in einen Eimer zu reden oder das Gesicht des Ersten Reiters darin zu sehen.
Du musst mehr tun, als nur deine üblichen Pflichten zu erledigen.
»Mehr als …« Ha! Für Karigan war es alles andere als das
Übliche gewesen, besonders, da sie auch noch von unwillkommenen Visionen heimgesucht wurde. Sie hätte am liebsten den Wassereimer geschüttelt, um das Gesicht des Ersten Reiters auszulöschen und diesen Wahnsinn loszuwerden, aber die gleiche Macht, die sie zwang, in den Eimer zu starren, klemmte auch ihre Arme an die Seiten.
Sie schloss die Augen. »Ich sehe dich nicht, ich sehe dich nicht, ich sehe … «
Aber du kannst mich immer noch hören, ja?
Karigan seufzte. Widerstrebend öffnete sie die Augen und schaute die Erscheinung wieder an.
Du verschwendest meine Zeit mit solchen Dummheiten, und ich habe nicht viel Zeit.
Karigan biss die Zähne zusammen und hätte gern eine spitze Bemerkung über ihre eigene Zeit gemacht, aber dann schluckte sie sie herunter. Stattdessen fragte sie: »Was willst du von mir?«
Ich habe dir schon zuvor gesagt, du musst die Reiter zusammenhalten. Etwas verändert sich in der Welt. Die Reiter verstehen nicht, was mit ihren Gaben geschieht. Sie haben ihren Hauptmann verloren. Du musst ihnen helfen.
»Ich? Aber wie kann ich …«
Lil schnitt ihr mit einem uralten und sehr gereizten Fluch das Wort ab. Rede mit ihnen. Das wäre ein Anfang.
»Was soll ich ihnen sagen? Ich weiß nicht mehr als sie.«
Du weißt mehr. Wenn eine Erscheinung am Boden eines schmutzigen Wassereimers verärgert dreinschauen konnte, dann hatte Lil diese Wirkung nun erreicht.
Du hast mit einem Eleter gesprochen, und du hast seine Worte dem König ausgerichtet. Er hat dir von der Bresche erzählt, die Mächte zu beiden Seiten des Walls weckt, und du hast die zerrissenen Fesseln in dem leeren Grabmal gesehen.
Karigan erinnerte sich an die Steinplatte in dem überfluteten Grab. Nur dass es kein Grab, sondern ein Gefängnis gewesen war. Ein Geist hatte seine Ketten gebrochen und war auferstanden, um wieder in der Welt zu wandeln. Mächte erwachten … Mächte, Magie. Und endlich verstand sie.
»Du willst sagen, dass die Bresche für all das …« Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. »… für das Versagen meiner Fähigkeit verantwortlich ist.«
Ja, für das und andere seltsame Dinge. Die Magie ist aus dem Gleichgewicht geraten.
»Aber wie?«
Ich habe zu wenig Zeit, um das alles zu erklären. Die Tür wird sich jeden Moment schließen. Im Augenblick musst du die Reiter zusammenhalten.
»Du erlegst mir das auf, aber du willst nichts erklären?« Karigan befeuchtete ihre Lippen. »Wieso kommst du zu mir? Warum glaubst du, dass ausgerechnet ich tun kann, was du willst?«
Ein wenig Heu trieb über Lils
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