Die Botin des Koenigs reiter2
verlassenen Flurs stand eine Gestalt in Grün. Sie war nicht ganz … greifbar. Ihre Züge verschwammen irgendwie.
»Wer bist du?«
Die Gestalt warf den Kopf in lautlosem Lachen zurück und eilte in den verlassenen Flur. Karigan folgte ihr und blieb am Anfang des dunklen Gangs stehen.
Dort, wo das Licht mit dem Dunkel verschwamm, stand eine weitere Gestalt in Grün und blickte in den Flur. Sie war nicht unbedingt eine Erscheinung, war solider als die andere, und Einzelheiten waren deutlicher zu erkennen. Sie trug ein Bündel von Papieren und hatte den Arm in der Schlinge. Sie
hatte braunes Haar, und ihre Haltung und ihre Gestalt kamen Karigan ausgesprochen vertraut vor.
Ihr Götter!
Karigan G’ladheon stand sich selbst gegenüber.
Aber sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Der Flur begann sich um sie zu drehen. Die andere Karigan verschwamm, und nun leuchtete Licht am Ende des Flurs auf. Seltsam, sie hatte es nicht gesehen, als sie zum letzten Mal dort gewesen war.
Galadheon.
Hufschlag dröhnte in ihrem ganzen Körper, und sie rannte den Flur entlang dem Licht hinterher und hinterließ nasse Fußstapfen und eine Spur von Regentropfen auf dem staubigen Boden.
Es fühlte sich an, als würde sie das kleine flackernde Licht eher durch Jahre als durch einen Steinflur verfolgen. Ihre Schritte waren irgendwie gedämpft. Ganz gleich, wie schnell sie lief, das Licht blieb außer Reichweite. Sie dachte daran, umzukehren und auf dem gleichen Weg, den sie gekommen war, zurückzugehen, aber der Hufschlag trieb sie weiter; das Licht zog sie an.
Dann ging das Licht aus. Karigan blieb stehen, als es im Flur vollkommen dunkel wurde. Es war gespenstisch still, wenn man von ihren eigenen Atemzügen einmal absah.
Was jetzt?
Was war aus dem kleinen Lichtfleck geworden? Wo hatte der Ruf sie hingelockt?
Das Licht des Hauptflurs war weit hinter ihr verschwunden. Sollte sie sich zurücktasten? Sie musste mit einiger Bissigkeit zugeben, dass es nicht gerade besonders klug gewesen war, ohne Lampe einen verlassenen Flur entlangzurennen. Sie streckte die Hand aus und tastete nach der Wand. Der Stein
fühlte sich unter ihrer Hand kalt an, aber er war wirklich, und er würde ihr helfen, den Weg zurückzufinden.
Leises Weinen ließ sie innehalten. Jemand war ganz in ihrer Nähe. Die Person, die das Licht gehabt hatte?
Die leeren Flure trugen das Weinen aus mehreren Richtungen zu ihr, aber es schien von einer Stelle noch tiefer im verlassenen Flur zu kommen – nicht die Richtung, die sie hatte einschlagen wollen. Sie zögerte, wollte zu Helligkeit und Vernunft zurückkehren, aber was, wenn die Person, die da weinte, verletzt oder krank war?
Oder sich genauso verirrt hat wie ich?
Mit einem gereizten Seufzer tastete sie sich weiter den Flur entlang in die Richtung des Weinens, tiefer ins Dunkel hinein. Hin und wieder spürte sie muffige, verschlissene Wandbehänge, die unter ihren Fingern zerfielen.
Das Weinen wurde lauter und verklang dann. Die Flure verwandelten es in das Stöhnen von tausend gequälten Seelen. Manchmal klang es wie das Wimmern eines Kindes.
Sie wusste nicht, wie lange sie gegangen war, wie lange sie sich ihren Weg ertastet hatte, denn es gab keine Möglichkeit, an diesem unergründlichen Ort die Zeit zu messen. Sie konnte nicht einmal die Hand vor Augen sehen.
Sie fragte sich, ob genug Zeit vergangen war, damit jemand sie vermisste und nach ihr suchen würde. Hauptmann Mebstone würde diese Eskapade alles andere als amüsant finden. Wahrscheinlich würde sie sie zu weiteren Ausbildungsstunden mit Drent verdonnern.
Sie griff plötzlich ins Leere, wo ein weiterer Flur in den Gang einmündete, in dem sie sich befand. Die Luft fühlte sich ein wenig anders an, und in der Ferne flackerte ein winziges Licht. Es blendete sie, nachdem sie so lange im Dunkeln umhergeirrt war.
Das Weinen wurde immer lauter, und nun wurde es nicht länger von hallenden Fluren verzerrt. Als sie näher kam, zog sich das Licht nicht mehr zurück wie zuvor. Sie entdeckte, dass es eine flackernde Kerze auf dem Boden war, deren Flamme drohte, in ihrem eigenen geschmolzenen Wachs zu ertrinken. Daneben saß ein kleiner Junge, vielleicht sieben oder acht Jahre alt, der die Knie an die Brust gezogen hatte. Das Licht fiel auf sein tränenüberströmtes Gesicht. Seine Hose war am Knie zerrissen und schmutzig.
»Was ist denn los?«, fragte Karigan, aber er antwortete nicht und blickte nicht einmal zu ihr auf.
Sie kniete sich neben ihn.
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