Die Botschaft Der Novizin
und ebenso viele Conversas die Luft an. »Heute früh ist sie bei einer Besichtigung der hinteren Gärten in den Rio di San Giovanni Laterano gestürzt und dort ertrunken. Ein tragischer Unfall. Gott gebe ihr die ewige Ruhe.« »Und das Ewige Licht leuchte ihr«, erscholl es aus hundertzwanzig Kehlen.
Der Leichnam der Novizin wurde inmitten des Kapitelsaals abgestellt. Das weiße Stirnband und das weiße Brustteil ließen ihre durchscheinenden Gesichtszüge noch unwirklicher erscheinen. Der Kopfverband wirkte streng und nahm dem Gesicht alles Weibliche. Der zierliche Körper trieb in der Dunkelheit des Sarges wie eine Eisscholle auf dem Wintermeer. Die Hände waren übereinandergelegt und zum Gebet gefaltet. Verblüfft stellte der Pater fest, dass der goldene Wappenring fehlte. Wer hatte ihn abgezogen? Und warum? Padre Antonio hätte gern ihren Hals betrachtet, doch das kräftige Tuch der Kopfbinde war so um ihr Kinn gewickelt, dass er es unmöglich entfernen konnte.
Signora Artella sank auf die Knie und begann ein Vaterunser anzustimmen, dem ein Ave-Maria folgte. Die Frauen taten es ihr nach – und bald standen nur noch der Patriarch und er selbst. Padre Antonio verweigerte die Geste, weil er inzwischen immer unruhiger nach Isabella Ausschau hielt. Es lag nicht an der Unübersichtlichkeit der Menge, dass er sie nicht finden konnte. Sie war nicht hier! Hatte sie ihn gefoppt und war, sobald sie den Kapitelsaal betreten hatten, an einer anderen Seite wieder entschlüpft? Padre Antonio steckte in der betenden Menge fest. Das Gebet war in eine Art beschwörenden Singsang übergegangen, der an-und abschwoll und ihn fatal an eine Art Beschwörung gemahnte.
Doch das demutsvolle Andenken zwang auch ihn in die Knie, und schließlich ergab er sich der pulsenden Inbrunst der Chornonnen, der die Conversas antworteten. Innerlich jedoch verfluchte er sich und seine Leichtgläubigkeit, die ihn die TäuschungIsabellas nicht hatte durchschauen lassen. Schweren Herzens, damit er den Frauen gegenüber seine Glaubwürdigkeit nicht verlor, fiel er in den Singsang ein und ließ sich von den hellen weiblichen Stimmen einfangen und in himmlische Sphären entführen.
Dabei umschwirrten eine Reihe von Fragen seinen Kopf, als wäre eine ganze Kolonie von Fledermäusen aufgeschreckt worden: Wie war das Unglück geschehen? Hatte jemand es mit angesehen? Oder war sie einfach im Kanal getrieben? Wer hatte sie aus dem Wasser gezogen? Ihm wurde ganz schwindlig von all diesen Fragen, und er musste aufhören, überhaupt daran zu denken. Zuletzt schlich sich ein Gedanke in seinen Schädel, der ihn nervös machte: Hatte Isabella ihm nicht erzählt, sie habe die Novizin getroffen, als sie in das Kloster gekommen war? Was war zwischen diesen beiden vorgefallen?
Seine Gedanken und die Litanei flossen ineinander und zusammen zu einem alle Fasern des Körpers ausfüllenden Gefühl der Trauer, als das Hauptportal des Kapitelsaals aufgestoßen wurde. Der Gesang im Kapitelsaal verstummte und machte einer unnatürlichen Stille Platz, die beinahe körperlich zu fühlen war.
KAPITEL 41 Isabella hastete zurück zum Nonnenchor. Sie musste schnell handeln, bevor Padre Antonio oder sonst jemand ihre Abwesenheit entdeckte. In den letzten beiden Stunden hatte sich in ihr ein Plan entwickelt. Sie musste für sich selbst sorgen und durfte ihre Entdeckung nicht ohne Gegenleistung preisgeben. Was immer sie finden würde, es war einen hohen Preis wert, und sie würde sich dafür ihre Freiheit erkaufen.
Isabella warf den Kopf zurück, als wolle sie ihr Haar schütteln, doch da gab es nichts zu schütteln. Eines ihrer zukünftigen Ziele würde wieder langes Haar sein, schulterlang und schwarz wie die Nacht.
Sie lief durch die Gänge. Dabei durfte sie ihre Eile nicht zeigen, denn sie begegnete einer Reihe von Bediensteten, die sie verwundert betrachteten – und einmal musste sie sogar zu einer Notlüge greifen, als eine der jüngeren Schwestern sie nötigen wollte, dem Klang der Glocke zum Konvent zu folgen. Sie sei beauftragt, Suor Ablata zu holen, schwindelte Isabella, bevor sie sich dem Griff der Nonne entwand. Nur widerwillig wurde ihre Entschuldigung akzeptiert, und die Nonne sah der Educanda lange nach, bevor die Glocke sie in den Kapitelsaal zwang. Isabellas Ziel war nicht der Nonnenchor. Ein Kloster wie San Lorenzo verfügte nicht über viele Orte, an denen ein Werk wie die Neumenhandschrift verborgen werden konnte. Vor allem dann nicht, wenn man darauf
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