Die Botschaft Der Novizin
erwacht war: Es entstand wie von selbst eine Gedankenkette: Das Brevier war ein Buch, Bücher standen in Bibliotheken, Bibliotheken wurden von Bibliothekaren verwaltet ...
Der Bibliothekar! Sie kannte eine ganze Reihe von Menschen in der Lagunenstadt, auf die ein solcher Name passen würde. Sie kannte vor allem einen dieser Büchernarren und Schriftverliebten, der direkt im Sestieri San Polo hinter der Offizin ihres Vaters hauste – und der zudem einer der bedeutendsten Familien der Stadt angehörte: der Familie Contarini; einem zwar reichen, jedoch einflusslosen Seitenzweig der großen Familie.
Unwillkürlich nickte sie in den Raum hinein, als habe ihr dieser persönlich das Ergebnis ihrer Überlegungen mitgeteilt. Ebendieser Gedanke war es, der sie geweckt hatte.
Zwei Entscheidungen stritten in ihr. Einerseits wollte sie wissen, ob der alte Biblothekar tatsächlich noch lebte und womöglich mit ihrer Tante in Verbindung gestanden hatte, andererseits interessierte sie, wo sich dieses geheimnisvolle Manuskript verbarg. Sie war sich sicher, bei den Hinweisen im Kloster etwas übersehen zu haben. Doch was? Ganz hinten in ihrem Kopf köchelte ein Gedanke und sandte seine Dunstschwaden in ihr Bewusstsein, doch sie konnte diese nicht fassen und griff ins Leere. Isabella musste schmunzeln, weil ihr jetzt dasselbe widerfuhr wie eben: Sie musste die Gedanken loslassen, um sie greifen zu können. Vielleicht war es wirklich besser, nicht das Kloster zu durchsuchen, sondern sich zuerst um den Bibliothekar zu kümmern.
Ein Blick aus dem hoch gelegenen Fenster in den wolkenleeren Himmel mit seinem strahlenden Blau verriet ihr, dass der Vormittag noch nicht vorbei war. Sie wäre demnach zeitig dran. Gegen Nachmittag könnte sie wieder zurück sein und im Kloster selbst nachsehen. Außerdem tat es dem Pater gut, wenn der nicht glaubte, sie warte auf ihn.
Sie öffnete die Tür und hielt kurz inne. Hatte sie nicht außerdem Marcello zur hinteren Tür bestellt? Zwar hatte sie ihm die Prim als Zeit genannt, doch für Verliebte schlägt keine Stunde, und vielleicht wartete er dort noch immer. Eine solche Gelegenheit kam sicherlich so schnell nicht wieder.
Rasch ordnete sie ihre Kleider und vor allem die Kopfbedeckung, schob sich den schwarzen Schleier tiefer ins Gesicht, sodass sie von der Seite nicht sofort erkannt wurde, und trat vor die Tür. Niemand war zu sehen. Jetzt, zwischen Prim und Terz, gingen die Frauen ihren Tätigkeiten nach. Die Gärtnerinnen jäteten die Beete, andere wuschen, manche putzten Zellen und Gänge. Vor denen musste sie sich allerdings in Acht nehmen. Sie konnten überall im Konvent auftauchen. Auch die Conversas, die für Gotteslohn arbeiteten, konnten sie erkennen. Doch von ihnen ging keine Gefahr aus. Sicherlich war keine Conversa von den Nonnen über ihre Ausweisung aus dem Kloster unterrichtet worden.
Isabella huschte durch die Gänge und wunderte sich, dass weder Nonnen noch Bedienstete unterwegs waren. Beinahe geräuschlos, mit der Heimlichkeit einer Schlange, schlich sie sich durch den Konvent. Sie durchquerte den Kreuzgang und gelangte ins Reich der Cellerarin. Doch selbst von ihr hörte und sah sie nichts. Ein wenig verwundert und zugleich beunruhigt lauschte sie, ob nicht vom Chor aus Stimmen zu vernehmen waren. Kein Gesang war zu hören, kein Beten.
Isabella gelangte in den ältesten Teil des Klosters. Das Klima
wurde der starken Mauern wegen feuchter und kühler. Sie
schlüpfte in den Zugang zur Außenpforte, wo sie damals JuliaContarini getroffen hatte, bevor diese umgekommen war, und bemerkte, dass man aus der Nische heraus, in der die Novizin gestanden hatte, einen hervorragenden Blick auf den Eingang hatte, ohne selbst gesehen zu werden. Sie betrachtete die Mauervertiefung und stellte fest, wie harmonisch sie sich in das Mauerwerk einfügte. Offensichtlich hatte man sie von Beginn an eingeplant. Obwohl sie gern gewusst hätte, wozu diese Höhlung gedient hatte, eilte sie weiter. Man konnte nicht alle Rätsel sofort lösen.
Bevor sie sich in das letzte Teilstück des Ganges schlich, von dem aus jeweils zwei Gänge links und rechts abzweigten, lauschte sie in das Morgenlicht hinein. Sie wollte nicht wieder überrascht werden, schon gar nicht von dieser dunklen Gestalt. Wenn sie allein daran dachte, fröstelte sie. Warum hatte der Pater den Unbekannten provozieren müssen? Endlich fasste sich Isabella ein Herz und rannte den letzten Teil des Wegs bis zur Pforte.
Das Tor war
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