Die Botschaft Der Novizin
Sie zeigte auf ein Regal gut sechs Fuß über ihnen, weit über Augenhöhe. Auf den ersten Blick konnte Padre Antonio nichts anderes sehen als ein Regal, in dem Tontöpfe lagerten, Schmalz womöglich und Marmeladen oder saures Gemüse. Nichts unterschied es von anderen, bis der Pater die gespaltene Wange bemerkte. Während alle anderen Regale von Brettern in doppelter Daumendicke getrennt wurden, waren hier die Wangen aufgedoppelt worden, als würden sie sich bewegen lassen.
»Dort ist der Zugang. Man kann das Regal öffnen«, sagte Isabella im Brustton der Überzeugung und trat auf die Rückwand zu.
»Aber wie?«, fragte der Pater, der von einer unerklärlichen Erregung gepackt wurde. Sollten sie tatsächlich die Zisterne gefunden haben und damit den Ort, an dem das Evangelium der Maria aufbewahrt wurde? Mit der Zunge musste er seine trockenen Lippen befeuchten.
»Jetzt steht nicht dumm herum, sondern helft mir!«, fuhr ihn Isabella an, nachdem er sich nicht von der Stelle rührte. Padre Antonio schreckte auf und sprang Isabella bei. Gemeinsamsuchten sie mit gestreckten Armen die Regalböden und -wände nach einem Öffnungsmechanismus ab, ohne fündig zu werden.
»Sollten wir nicht Suor Artella fragen? Die Custodes Dominae verfügen sicherlich über ein Wissen um diesen Zugang.« Der Pater wandte sich um. »Wo ist die Priorin?«, fragte er halblaut, nachdem er die Chornonne nirgends entdecken konnte. War sie nicht mit ihnen zusammen in den Vorratsraum gekommen? Er erinnerte sich nicht daran. »Suor Artella!«, rief er in den Raum und hoffte, sie würde ihm antworten, doch nichts geschah. Es blieb so still, als hätte sich die Frau in Luft aufgelöst.
Sogar Isabella, die sich um seine Überlegung nicht gekümmert hatte, sah jetzt auf. »Wo ist die Signora?«, fragte sie beiläufig. Den Kopf in den Nacken zu legen bereitete ihm Schmerzen. Er fühlte ein Klopfen, und die Beule meldete sich wieder. »Ich weiß es nicht. Wir sollten nachsehen!«, krächzte der Pater und rieb mit beiden Zeigefingern gegen die Schläfen, um das pochende Stechen zu vertreiben.
Sie hatten die Priorin nicht mehr beachtet, weil sie zu gierig gewesen waren, den zweiten Zugang zu finden, und Signora Artella war ihnen offensichtlich nicht bis hierher gefolgt. Plötzlich ertönte ein Krachen, als würde eine Tür zugeschlagen. Padre Antonio sah, wie auch Isabella zusammenzuckte. Das kurze Erschrecken in ihrem Gesicht wurde jedoch sogleich von einer grimmigen Entschlossenheit abgelöst.
»Wir haben etwas übersehen, Padre!«, presste sie zwischen den Zähnen hervor. »Etwas ganz Entscheidendes!«
Bevor Padre Antonio antworten konnte, war sie auch schon aus dem Raum gelaufen und im Gang verschwunden, der zum hinteren Garten führte. Der Pater folgte ihr.
»Wo lauft Ihr hin?«, rief er ihr hinterher, erhielt jedoch keine Antwort. An der Pforte holte er sie ein.
»Sie ist nach draußen!«, sagte Isabella resigniert. »Wir hatten
übersehen, dass auch sie zu den Custodes Dominae gehört. SeitGenerationen sind sie damit betraut, das Manuskript zu bewachen. Jetzt, da sie weiß, wo es verborgen liegt, hat sie natürlich gehandelt wie eine Wächterin.«
Sie schlug mit der Hand gegen die Pforte, doch dahinter rührte sich nichts. »Im Vorratskeller brauchten sie nicht weiterzusuchen. Die Jahrhunderte haben das Holz womöglich quellen lassen und so ganz natürlich den zweiten Zugang verschlossen. Nur mit einer Axt wäre er zu öffnen gewesen – und Signora Artella hat es gewusst.«
»Sie hat uns also in unsere eigene Falle laufen lassen?«
Isabella schnaubte. »Sie hat gehandelt, wie alle ihres Ordens gehandelt hätten. Sie schützt das Manuskript.« Isabella drehte sich zum Pater um. »Ihr wolltet es doch auch besitzen und in die Vaticana eingliedern!«
Selbst im Dämmerlicht des Gangs konnte der Pater die spöttische Entschlossenheit in ihrem Gesicht erkennen. Wie schön sie diese junge Frau machte! Einen Lidschlag lang dachte er daran, wie aufregend es sein musste, wenn auch die Frauen sich in der Kirche eine Stellung erobern würden, wie befruchtend dies wäre ...
»Seht mich nicht so an, Pater!«, wies Isabella ihn unwirsch zurecht. »Wir haben Wichtigeres zu tun, als Eure Gelüste zu stillen.«
Langsam, als würde es ihm Mühe bereiten, zu sich zu finden, reagierte er auf die Ansprache. »Wir ... wir sollten hinaus zu ihr.«
»Gut gedacht«, zwitscherte Isabella, wieder mit ihrem provozierend wissenden Ton. »Und wie sollen wir das
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