Die Botschaft Der Novizin
das zerstörte Manuskript und auf die Metallschatulle, die vor ihr standen. »Was gibt es noch zu bewahren? Einen Papyrusbrei? Ein wertloses Behältnis? Einen Gedanken, der niemals aufgelöst werden kann? Einige unverständliche Sätze, die nur noch Erinnerung sind? Warum sollten die Custodes Dominae sich erneuern? Ich ...« Sie blickte zu Boden und versuchte mit den Zehen ein Wort in den dichten Teppich zu ihren Füßen zu schreiben, ein Wort, das alle ihre Zweifel ausdrückte: Warum? »Ich ... werde das Kloster verlassen.«
Suor Immacolata atmete tief ein und hustete unaufdringlich. Dann deutete sie auf den Metallbehälter vor sich. »Alle haben nur auf den Papyrus gesehen. Dabei ...«, in ihrer Miene wuchsen Spott und Hohn, »... dabei wäre ein Blick auf das Kästchen hier mindestens ebenso aufschlussreich gewesen. Quaerens invenies, inveniens scies! Suche und du wirst finden. Finde und du wirst wissen!«
Die Äbtissin machte eine kleine Pause, in der Isabella sie neugierig betrachtete. Was wollte ihr die ehrwürdige Mutter damit sagen?
»Glaubst du wirklich, du hättest den Papyrus gefunden? Das Marienevangelium?« Sie lachte lautlos in sich hinein. »Lies, was dort steht!« Sie drehte die leere Schatulle zu ihr um und kippte sie. Auf der Rückseite waren Worte eingraviert. Es waren griechische Buchstaben, so viel konnte sie erkennen. Doch was genau stand dort?
»Maria, Gemahlin des B..., steht dort zu lesen«, übersetzte ihr die Äbtissin. »Verstehst du, Kind. Ein Beta! Gemahlin des B... – nicht des I..., wie Ioseph.«
Die beiden Frauen sahen sich an und schwiegen. Isabellas Kopf fühlte sich plötzlich dumpf und schwer an. Ihr Verstand wollte nicht reagieren.
»Frauenwissen«, flüsterte die Äbtissin. »Frauenwissen reicht weit über das hinaus, was Männer sich auch nur vorstellen können.«
Langsam erst begann Isabellas Vorstellungskraft wieder zu arbeiten. »Aber das bedeutet ... das heißt, dass Jesus ...«, ihre Lunge füllte sich plötzlich mit Luft, »... das Bild am Eingang, es verbirgt nicht nur den Weg und die Tatsache, dass Maria Aufzeichnungen geführt hat, es verbirgt Marias Geheimnis ... Maria war bereits verheiratet, bevor ... «, ihre Hand fuhr an den Mund und versuchte das Wort zurückzuhalten, das sich dort geformt hatte. »Mein Gott!«, konnte sie nur flüstern. »Bevor ...« Sie wagte den Satz nicht zu Ende zu bringen.
»Ja«, bestätigte die Äbtissin, »das könnte es bedeuten.« Isabella fühlte sich ein wenig den stechenden Augen und dem darin verborgenen spöttischen Blick ausgesetzt. »Es könnte jedoch ebenso heißen, dass diese Kassette nicht das war, wonach wir gesucht haben.«
Der Blick der Äbtissin bohrte sich in den Isabellas. Alles konnte es bedeuten, alles – und nichts. Heiß stieg in Isabella die Erkenntnis auf, dass diese Suche noch nicht zu Ende war, dass irgendwo innerhalb dieser Mauern das Manuskript weiter auf seine Entdeckung wartete. Auf sie wartete. Doch dann erinnerte sie sich an die Seelenqualen beim Eintritt in den Konvent, an die Toten und an all die Intrigen, die sie miterlebt hatte. Wollte sie daran wirklich weiter teilhaben?
Isabella stand auf. »Marcello wartet. Er hat mir versprochen ... wir werden heiraten. Vater wird mir nach allem, was geschehen ist, eine Mitgift nicht mehr abschlagen können.«
Isabella stand auf, wandte sich um und ging. Sie ließ die Äbtissin einfach sitzen, schloss nicht einmal die Tür hinter sich. Im Laufen streifte sie die Haube ab, und je näher sie dem Ausgang kam, desto schneller wurden ihre Schritte. Sie stand vor der inneren Pforte, zog am Klingelzug, wartete, bis sich die Tür öffnete, betrat den Vorraum und verharrte, mit dem Gesicht zur Pforte gewandt, so lange reglos, bis die Pfortenschwester ihr öffnete. Sie zwang sich, keinen Blick auf das Gemälde in ihrem Rücken zu werfen. Sie wollte mit alldem nichts mehr zu tun haben. Endlich klickte das Schloss, und mit aller Gewalt zog sie die Pforte auf.
Eine Helligkeit empfing sie, die sie beinahe blind machte. Auf der Schwelle blieb sie stehen, die offene Tür in der Hand. »Marcello!«, rief sie auf den Platz hinaus, doch nur das Echo ihrer eigenen Stimme kehrte zu ihr zurück. »Marcello?«, rief sie noch einmal, ohne das Türblatt loszulassen. Niemand antwortete ihr.
»Isabella!«, hörte sie plötzlich. Doch der da sprach, war nicht Marcello, sondern Padre Antonio. »Ich dachte mir schon, dass Ihr diesen Weg wählen würdet.«
»Habt Ihr etwas von
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