Die Botschaft Der Novizin
Dahinter befand sich niemand.
»Du kennst also den geheimen Gang?«, sprach sie eine Stimme von hinten an.
Isabella stieß einen kurzen Schrei aus und fuhr herum. Obwohl sie hätte schwören können, gerade eben niemanden im Raum bemerkt zu haben, stand Signora Artella vor ihr. Isabella erschrak doppelt, denn wenn ihre Ohren sie nicht getäuscht hatten, war Signora Artella die Nonne, die sich mit Suor Maria gestritten hatte, bevor die hatte sterben müssen.
»Ja ... äh ... aber das war Zufall ... «, versuchte Isabella von ihrer Nervosität abzulenken und gleichzeitig nach einem Fluchtweg Ausschau zu halten. Doch die Nonne stand so, dass ihr nur der Weg durch den Geheimgang blieb.
»Setz dich!«, herrschte die Nonne sie an. »Ich muss mit dir sprechen!« Dann seufzte sie.
Es verwunderte Isabella. Was sollte die Priorin mit ihr zu bereden haben? Sie konnte sich keinen zwingenden Grund vorstellen.
So nickte sie nur und setzte sich an den Backtisch, vor dem eine Bank ohne Lehne stand.
»Ich bleibe stehen, Kind«, sagte die Nonne nur gequält. »Die Hüfte!«, setzte sie hinzu. »Es geht mit jedem Jahr schlechter. Zu lange habe ich auf hölzernen Pritschen gelegen.« Sie seufzte abermals.
Isabella glaubte ihr kein Wort. Wer sich ein Habit aus bester Atlasseide leistete, der schlief nicht auf hölzernen Pritschen. »Ich hätte früher mit dir reden müssen«, begann Signora Artella, winkte jedoch sofort ab, als Isabella nachfragen wollte, worüber sie denn mit ihr zu reden habe. »Es geht um deine Tante«, nahm Signora Artella den Faden wieder auf, wie wenn man einen Zwirn in die Öse einer Nadel fädelt. »Suor Francesca hat sich mit der Geschichte dieses Klosters beschäftigt. Hat sie dir irgendetwas darüber erzählt? Hat sie etwas erwähnt?« Isabella wusste nicht recht, worauf die Nonne hinauswollte. »Nein. Sie hat mir wohl erzählt, dass San Lorenzo zu den ältesten Klostergründungen der Stadt gehört. Mehr nicht.«
Signora Artella hielt das Kinn hochgereckt und musterte sie mit einem Blick, der allein bereits Furcht einflößte. Isabella senkte die Augen. Sollte sie der Nonne sagen, dass die Tante sie ins Kloster geholt hatte, um etwas mit ihr besprechen zu können? Sie entschied sich dagegen, solange die Nonnen in San Lorenzo nicht mit der Wahrheit herausrückten.
Signora Artella lief auf und ab. Sie humpelte leicht, was ihre Schmerzen in der Hüfte glaubhaft erscheinen ließ.
»Und Suor Maria? Sie war den Tag über mit dir zusammen. Hat sie etwas ... erzählt, das dir ungewöhnlich vorkam?«
Isabella schüttelte den Kopf.
»Du musst wissen, Suor Maria ... sie war nicht freiwillig hier. Manchmal bekam sie Besuch.« Hier stockte Signora Artella und beobachtete, wie die Enthüllung auf sie wirkte. »Männerbesuch.«
Jetzt war Isabella tatsächlich fassungslos. »Männer? Hier im Kloster?« Sofort begannen sich in ihrem Kopf die verschiedenen Stränge zu einem einzigen zusammenzufügen. Der Schlüssel! Jetzt ahnte sie plötzlich, wozu er diente.
Signora Artellas Gesicht blieb ausdruckslos. Sie nickte nur. »Männerbesuch. Mit Billigung der ehrwürdigen Mütter, des Ältestenrats.« Sie zuckte die Schultern. »Der Zölibat sollte dem auferlegt werden, der sich dazu berufen fühlt. Suor Maria liebte das Leben.« Jetzt gelang der Alten sogar so etwas wie ein Lächeln, als erinnere sie sich an ihre eigene Jugend.
Die alte Nonne bestätigte Isabellas Vermutung. Dieses Kloster besaß geheime Durchgänge, vermutlich besaß es auch wenig benutzte Eingänge. Wer Männer ins Kloster lassen wollte, brauchte dafür einen Schlüssel. Der Schlüssel unter ihrem Habit diente dazu, eine solche Tür zu öffnen.
»Ich habe mit Suor Francesca gesprochen, bevor sie ... «, hier stockte Signora Artella und sah Isabella ernst an, und sogleich verschwand jener Anflug von Heiterkeit aus dem Gesicht der Chornonne.
Isabella erkannte die Gelegenheit, die Schwester auf ihre Aufrichtigkeit hin zu prüfen. Würde sie ihr jetzt die Wahrheit sagen?
»... bevor sie was getan hat?«, ergänzte sie daher in unschuldigstem Ton.
»Bevor sie das Kloster verlassen hat«, sagte die Nonne, und Isabella dachte im gleichen Moment: »Lügnerin!«
Noch während sich Isabella für ihre Ablehnung rüstete, trat Signora Artella an sie heran und griff nach ihrem Arm. Sie beugte sich zu ihr hinab. »Kind, du bist in Gefahr. Suor Francesca war mir ein Leben lang eine Freundin. Du musst wissen, dass SuorMaria vermutlich das Opfer einer
Weitere Kostenlose Bücher