Die Botschaft Der Novizin
der Kirche mit dem Altar blicken. Am Fuß des Chors befand sich eine weitere Öffnung, durch die von ebener Erde aus der Blick hinausging. Dort war das Gitter dichter. Zwischen den beiden Chorstuhl-seiten lag ein kleinerer Altar.
Über ihren Köpfen spannte sich ein Tonnengewölbe, das ebenso mit Bildfeldern geschmückt war wie die Seitenwände. Aufmerksam betrachtete Isabella die Malereien und entdeckte darin zwei Geschichten, die erzählt wurden.
Die eine davon war die Legende des heiligen Laurentius von Rom. In einem Bilderfeld wurde Papst Sixtus von Kaiser Valerian enthauptet und der Archidiakon Laurentius aufgefordert, alles Eigentum der Kirche herauszugeben. Im zweiten Feld sah man den Heiligen das Vermögen der Kirche an die Armen verteilen, die sich um ihn versammelt hatten. Im dritten Feld präsentierte er die Armen dem Kaiser als wahren Reichtum der Kirche, woraufhin ihn der Kaiser foltern und auf einem eisernen Gitterrost grillen und so qualvoll hinrichten ließ. Isabella betrachtete die Bilderfolge mit Ehrfurcht. Mindestens zweihundert Jahre alt musste sie sein, vermutlich jedoch viel älter.
Ähnlich ehrwürdig und ebenso ausdrucksvoll wirkte die zweite Bilderwand, die von den Durchbrüchen kleiner vergitterter Fenster gegliedert wurde. Sie zeigte eine alte Frau, die gebeugt und gekrümmt in ihrer Hütte saß, die Hände im stillen Gebet im Schoß gefaltet, mit gebeugtem Nacken, ein Tuch so über den Kopf gelegt, dass ihr Gesicht verdeckt war. Die Bemalung wies Risse auf und Lücken, wo die Farbe abgeblättert war, unterdem Einfluss der feuchten Luft, die vom Kanal heraufstieg. Im zweiten Bildfeld saß die Alte an einem Pult. Was sie dort tat, konnte man nicht mehr erkennen, da hier der Putz völlig zerbröckelt und das Ziegelmauerwerk dahinter freigelegt war. Vermutlich las sie in einem Buch. Das Bild erinnerte Isabella in seiner ganzen Haltung und Art an etwas, ohne dass sie im Augenblick sagen konnte, woran. Im dritten Feld übergab die Frau einer Nonne ein in graues Tuch eingewickeltes Geschenk. Mit der ausgestreckten Hand wies sie dabei gegen die untergehende Sonne, als müsse es bald Nacht werden und die Ordensfrau sich beeilen. Im letzten Bild, das der Folterdarstellung gegenüber lag, stand die Klosterschwester vor einem Kirchenbau, dem ein Kloster angegliedert war. Über ihr schwebte, als würde sie sich beim Anblick des Gotteshauses an die Stifterin erinnern, das Bild der alten Frau mit ihrem Geschenk. Darunter flatterte ein Spruchband, auf dem die Inschrift cust dom zu lesen war, zwei Worte, die Isabella nicht zu deuten vermochte.
Beide Bilderfolgen vereinigten sich in einem Altarbild, das San Lorenzo und Venedig zeigte. Umgeben von Wasser, viel mehr Wasser, als heute noch zu sehen war. Die Klosterkirche stand inmitten eines blühenden Gartens mit Zisternen und Brunnenschächten, mit Obstgärten und Feldern. Isabella konnte sich keinen Reim darauf machen, vor allem nicht auf den zweiten Zyklus. Wer war die alte Frau? Was gab sie weiter? Und was bedeutete cust dom ? Sie beschloss, Signora Artella zu fragen.
Das Klacken eines Stocks holte Isabella aus ihrer Betrachtung. Mutter Ablata betrat den Chorraum, schlurfte, gestützt auf ihre Gehhilfe, nach vorne zum Chorbuch, das mächtig auf einem schweren hölzernen Pult neben dem Nonnenaltar ruhte. Sie fingerte in ihrem Habit herum, bis sie schließlich eine Kette in der Hand hielt, an der sie einen Schlüssel aus ihrer Tasche zog. Isabella achtete zuerst gar nicht darauf, bis das Blitzen des Schlüssels, dessen Schaft im Kerzenlicht blinkte, ihre ganze Aufmerksamkeit gefangen nahm. Mit dem Schlüssel öffneteMutter Ablata die drei Schließen der Neumenhandschrift. Zittrige Finger klappten die Schnallen zurück, dann trat die ehrwürdige Mutter beiseite, weil zwei jüngere Frauen die gewaltigen Deckel anhoben und den für die Horen bestimmten Hymnus aufschlugen. Isabella sah die großen Zeilen mit den Choralnoten und die darunterliegende Interlinearschrift, sie sah die farbigen Initialenbilder, doch sie konnte sich nicht darauf konzentrieren. Was ihren Blick regelrecht anzog, war der Schlüssel, der an der Außenseite der Kutte Suor Ablatas herabhing. Es konnte kein Zweifel daran bestehen. Er besaß dieselbe Form wie der, den sie in ihrer Innentasche stecken hatte, denselben gekrümmten Bart.
Isabella bewegte den Mund, ohne tatsächlich mitzusingen, so sehr nahm ihre Entdeckung sie gefangen. Jetzt wusste sie, wozu ihr Schlüssel diente. Man
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