Die Bourne Intrige
geplanten amerikanisch-russischen Militäroperation im Iran. Er wusste, dass er nur diese eine Chance hatte, sein Vorhaben zu verwirklichen, nur ein kurzes Zeitfenster, in dem das allgemeine Chaos auf dem Höhepunkt war. An ein mögliches Scheitern dachte er erst gar nicht, denn das würde den sicheren Tod für ihn und seine Männer bedeuten.
Er war hundertprozentig vorbereitet – im Gegensatz zu Mischa und Oserow damals, als sie mit allen Mitteln versuchten, ihn aus seinem Kellergefängnis in Nischni Tagil herauszuholen.
Die Nachricht von den grausigen Morden an Stas Kuzins Männern hatte sich so schnell in Nischni Tagil verbreitet, dass sie bis hinunter zu Arkadin gelangte, der sicher wie eine Ratte im Keller des Hauptquartiers der Bande versteckt war. Die Neuigkeit war so beunruhigend für ihn, dass sie ihn aus seinem feuchten dunklen Versteck lockte. Wer wilderte da in seinem Revier? Es war sein Job, Stas’ Leuten das Leben zur Hölle zu machen; kein anderer als er hatte das Recht dazu.
Und so stieg er in die verpestete Luft der Stadt hinauf. In der Dunkelheit blickte er zu den Schornsteinen hinüber, die ihren giftigen Rauch ausspien. Mit der Regelmäßigkeit von Kirchenglocken schickten die Scheinwerfer der Hochsicherheitsgefängnisse ihr grelles Licht in die Dunkelheit hinaus.
Für Arkadin war es immer noch die Bande des toten Stas Kuzin, auch wenn dieser Idiot Lew Antonin heute das Sagen hatte – eine Position, die er sich durch brutale Gewalt erkämpft hatte. Drei Männer waren dabei gestorben – unnötigerweise, wie Arkadin wusste, denn wenn man etwas im Kopf hatte, dann wäre es einem nicht schwergefallen, sich ohne Blutvergießen zu Stas’ Nachfolger zu machen. Lew Antonin war dazu offensichtlich nicht in der Lage, deshalb war er in gewisser Weise vielleicht doch der richtige Mann, um Kuzins Bande von Mördern und sadistischen Dummköpfen anzuführen.
Als schließlich auch noch der erste Vollstrecker der Bande samt seiner Familie getötet wurde, hielt Arkadin es nicht länger aus – er musste herausfinden, was da vor sich ging. Man brauchte kein Genie zu sein, um sich vorzustellen, dass Lew Antonin das nächste Ziel des unbekannten Killers sein würde. Wer immer es war, er ging offenbar systematisch vor und arbeitete sich in der Hierarchie der Bande immer weiter hinauf – der sicherste Weg, um Leuten Angst einzujagen, die von sich behaupteten, keine Angst zu kennen.
Mitten in der Nacht näherte sich Arkadin Lew Antonins Haus, einem großen, unglaublich hässlichen zweistöckigen Kasten, dessen Architektur offenbar für modern und stilvoll gehalten wurde. Er nahm sich eine Dreiviertelstunde, um die Umgebung auszukundschaften, das Haus von allen Seiten zu beobachten und das Risiko einzuschätzen, wenn er sich von dieser oder jener Seite näherte. Alle Sicherheitslichter waren eingeschaltet; die Mauern wirkten flach und zweidimensional in dem grellen blauweißen Licht.
Auf einer Seite des Hauses stand ein alter, halb abgestorbener Kirschbaum. Auf halber Höhe bildeten die ineinander verschlungenen Äste einen gordischen Knoten, der stark genug schien, um mehrere Männer zu tragen. Die Äste waren so dick, dass es dahinter dunkel war und auch das vom Menschen gemachte grelle Licht nicht hereindrang.
In seiner Jugend war Arkadin – sooft er dem Gefängnis seines Zuhauses entfliehen konnte – auf Bäume, Hügel und Berge geklettert. Es konnte ihm gar nicht hoch und gefährlich genug sein. Wenn er beim Klettern ums Leben kommen sollte, dann wäre es wenigstens bei etwas passiert, was er liebte – und das war immer noch besser, als von seiner Mutter zu Tode geprügelt zu werden.
Ohne zu zögern, kletterte er auf den Baum, auf der Seite, wo er durch den dicken Stamm vor den grellen Lichtern geschützt war. Er spürte das gleiche Hochgefühl wie einst mit neun oder zehn Jahren, bevor ihm seine Mutter, als sie ihn wieder einmal bei der Flucht aus dem Haus ertappte, das Bein brach.
Als er innerhalb des gordischen Knotens aus Ästen war, hielt er inne, um sich umzublicken. Er war fast auf der Höhe der Fenster im ersten Stock, die natürlich geschlossen waren, um eventuelle Eindringlinge ebenso draußen zu halten wie die giftige Asche der Stadt. Nicht dass ein geschlossenes Fenster ein Problem für Arkadin darstellte; worauf es ihm ankam, war, eines zu finden, das in einen leeren Raum führte.
Es gab vier Fenster, jeweils zwei nebeneinander, was wohl bedeutete, dass oben zwei Zimmer waren,
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