Die Bräute des Satans
möglicherweise auf der falschen Spur zu sein. Die Seiten, welche er überflog, waren bereits vergilbt, listeten Memorabilien aus dem Klosterleben auf und unterschieden sich durch nichts von den übrigen Folianten im Regal. Naturkatastrophen, Kriegswirren, Verkäufe, Schenkungen – die übliche Litanei. Bruder Hilperts Ungeduld wuchs. Mit jeder Stunde, die ungenutzt verstrich, würden seine Widersacher an Boden gewinnen. Da gab es nichts zu beschönigen. Bis zur Kapitelsitzung mussten die Beweise auf dem Tisch liegen, sonst würde er gegenüber Remigius den Kürzeren ziehen.
Und der Mann, den er des Mordes bezichtigte, ungestraft davonkommen.
Bruder Hilpert war so sehr in seine Gedanken vertieft, dass er den Fingerzeig, welchen sein Schöpfer ihm gab, beinahe übersehen hätte. Kein Wunder, hatte er doch im Verlauf der letzten halben Stunde so viele Bücher durchgeblättert wie schon lange nicht mehr.
Doch dann, aufgrund einer Fügung des Himmels, rührten sich Daumen und Zeigefinger nicht mehr. Bruder Hilpert hielt verdutzt inne, nahm die Öllampe zur Hand, welche auf der Oberkante des Lesepultes stand – und riss ungläubig die Augen auf. Dann blätterte er zur ersten Seite zurück und begann noch einmal von vorn. ›Anno Domini 1390, Mensis Januarius‹ stand da zu lesen. Auf der Rückseite folgten die Denkwürdigkeiten aus dem Monat Februar, unter anderem Frost und eine Viehseuche. Dann die aus dem März und April. Und dann kam das Merkwürdige, zunächst Unerklärliche. Bass erstaunt, nahm Bruder Hilpert das vergilbte Blatt näher unter die Lupe. Nein, Irrtum ausgeschlossen. Was er zunächst vermutet hatte, nämlich dass zwei Blätter aneinander haften geblieben waren, bewahrheitete sich nicht. Fazit: Die Monate Mai und Juni fehlten. Und das wiederum legte einen ganz bestimmten Schluss nahe.
Bruder Hilpert stellte die Öllampe wieder ab, legte die Handflächen aneinander und starrte ins Leere. Schön und gut, aus der Chronik des Jahres 1390 war ein Blatt entfernt worden. Oder war der betreffende Bruder krank geworden, weshalb die Arbeit möglicherweise erst im Juli fortgesetzt worden war? Bruder Hilpert überflog die fragliche Seite, auf der diesbezüglich keinerlei Hinweise, etwa auf eine Epidemie oder sonstige Katastrophen, verzeichnet waren. Rechtsstreitigkeiten, Wettereinbrüche, ein Besuch des Bischofs. Alltagsroutine, Dinge von untergeordneter Bedeutung. Ein Monat wie jeder andere.
Folglich konnte, ja musste er davon ausgehen, dass das Blatt herausgerissen worden war. Da die Pergamentbögen übereinandergelegt, gefaltet, per Bindfaden aneinandergenäht und erst dann am Einband angeklebt wurden, war dies mit Sicherheit jedoch nicht ohne Folgen, sprich Spuren, geblieben. Es sei denn, der Betreffende war von vornherein darauf aus gewesen, sie zu verwischen. Was wiederum hieß, dass er den gesamten Bogen hätte heraustrennen …
Die Erkenntnis, welche Bruder Hilpert in diesem Moment kam, traf ihn wie ein Blitz. Sein Herz begann wie rasend zu klopfen, und er musste an sich halten, um seiner Genugtuung nicht lauthals Luft zu verschaffen. Als er den Monat April erreichte, bestätigte sich seine Vermutung. Am Rand waren Kratzspuren zu erkennen. Ein Indiz, wie es eindeutiger nicht hätte sein können. Kein Zweifel: Der fragliche Pergamentbogen war mithilfe eines spitzen Gegenstandes, höchstwahrscheinlich einem Messer, in zwei Teile geschnitten und anschließend aus der Chronik entfernt worden. Zuerst die eine, das heißt die beschriebene Hälfte, danach die leere aus dem hinteren Teil des Buches.
Und das wiederum legte eine ganz bestimmte Schlussfolgerung nahe.
Der besseren Lichtverhältnisse wegen nahm Bruder Hilpert die Öllampe, klemmte sich den Folianten unter den Arm und setzte sich an den Tisch, welcher an der Schmalseite des Skriptoriums stand. Nicht ahnend, dass er mit Argusaugen beobachtet wurde, zog Bruder Hilpert die drei Pergamentstreifen mit der gestochen scharfen Schrift des Täters hervor. ›MEA EST ULTIO‹ – perfider ging es wirklich nicht.
Der Rest war reine Routine für ihn, und obwohl er dagegen ankämpfte, konnte Bruder Hilpert seine Triumphgefühle nicht unterdrücken. Heureka! [39] , fuhr es dem Bibliothekarius durch den Sinn, woraufhin sich seine Anspannung in Nichts auflöste. Die drei Pergamentstreifen waren nicht nur haargenau gleich lang, sondern nahmen auch exakt die gleiche Fläche wie eine Buchseite ein. Mit anderen Worten: Der Täter hatte den Bogen entfernt, die
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