Die Brandungswelle
hatte. Er sah sich gründlich um, dann durchsuchte er alles. Ich wusste nicht, was er finden wollte. Er auch nicht. Er sagte nur, dass es eine Spur geben müsse, irgendwas! Es gäbe immer irgendwas.
Er öffnete die Schränke und passte auf, nichts durcheinanderzubringen.
Er brachte trotzdem viel durcheinander. Er suchte sehr sorgfältig, während ich mit der Lampe auf seine Hände im Inneren der Schubladen leuchtete. Schließlich fand er ein Register, in das Nan die Namen der Kinder bei ihrer Ankunft eingetragen hatte. Und ihren Weggang. Er setzte sich an den Tisch. Es war ein altes Heft. Er suchte auf den Seiten das Jahr 1967. Am 13. September war ein Kind weggegangen, ein anderes am 6. November. Am 12. Oktober war ein zweijähriger Junge gekommen. Es folgten ein paar Angaben, alle in einer Zeile, in verschiedenen Feldern. Ein Ankunftsdatum, keine Abreise. Am Ende der Zeile ein Name, Michel Lepage.
Das letzte Feld war leer.
»Dieses Kind ist angekommen und nie weggegangen.«
»Natürlich«, sagte ich, »es wurde adoptiert.«
Er nickte.
»Natürlich, ja …«
Er schaute sich die Seite ganz genau an. In die letzte Spalte war etwas eingetragen und dann ausradiert worden. Er hielt das Heft ins Licht, dicht unter die Lampe, aber man konnte trotzdem nichts lesen.
»Paul ist im Oktober 1967 verschwunden, am 19.«
Er las nochmal alles, was in der Spalte stand.
»Dieser Junge ist ein paar Tage zuvor gekommen. Er war ebenso alt wie mein Bruder.«
Er drehte sich zu mir um, sein Blick war hart.
»Ich weiß, so was nennt man Zufall! Aber als Schnüffler lernst du, dem Zufall zu misstrauen. Es gibt Fakten, und die Fakten passen zusammen, oder sie passen nicht. Und hier …«
»Was genau vermuten Sie?«
Er hob die Hand zum Hals.
»Paul hatte ein Medaillon. Das gleiche wie meins. Unsere vier Namen waren darin eingraviert, meine Mutter wollte das …«
Er zeigte mir das Medaillon, das er um den Hals trug, auf der Rückseite die vier Namen.
»Nan hat von einem Medaillon gesprochen, das bei ihr sei und das mir gehöre. Es muss hier irgendwo sein.«
»Wenn Michel es nicht mitgenommen hat.«
»Ja, wenn nicht …«
Er suchte weiter.
Ich erzählte ihm von dem Foto, das ich hier gefunden hatte, zwischen den anderen, das Foto, das Nan so heftig an sich gedrückt hatte.
Das Kind mit dem kleinen Holzzug. Ein vierzig Jahre alter Abzug.
»Es könnte Ihr Bruder sein, kurz nach dem Unglück.«
Ich hatte das Foto in meinem Zimmer gelassen.
»Ich bringe es Ihnen morgen.«
Ich erzählte ihm von den Briefen, die Théo bekam, den Briefen aus dem Kloster. Er hörte mir aufmerksam zu.
»Sollte Paul Mönch geworden sein …«
Ich dachte an Théo. Er musste die Wahrheit über das von Nan adoptierte Kind kennen. Es war unmöglich, dass er nichts wusste.
Lambert durchsuchte weiter das Zimmer, überall, mit demselben hartnäckigen Eifer, er wollte Beweise finden, Spuren seines Bruders in diesem Haus.
Ich ließ ihn allein.
Als ich in der Tür stand, drehte ich mich noch einmal nach ihm um. Ich sah ihn an. Ich freute mich für ihn.
Ich sagte es ihm: »Ich freue mich für Sie.« Er hatte die Tür zum zweiten Zimmer aufgemacht und war schon darin verschwunden.
Er hörte mich nicht.
E s war dunkel, aber noch nicht sehr spät. Bei Théo brannte noch Licht. Ich rannte zur Griffue , rannte die Treppe hoch und holte das Foto, das ich von Nan mitgenommen hatte. Dann eilte ich ins Dorf und nahm das Medaillon vom Grab. Die beiden Fotos im Licht einer Laterne. Es war dasselbe Kind, im Abstand von einigen Tagen aufgenommen. Nur der Hintergrund war ein anderer. Auf dem Medaillon sah man die Ecke eines Fensterladens, auf dem Bild eine einfache Tür. Ansonsten dasselbe Gesicht, dasselbe Poloshirt mit kleinen Booten.
Zwischen den beiden Aufnahmen lag das Bootsunglück.
Théo konnte nicht lügen. Er konnte nicht leugnen. Ich schlug den Weg ein, der zu ihm führte.
Als ich bei ihm ankam, sah er fern, in seinen Bademantel gehüllt, von Katzen umgeben.
Ich öffnete die Tür.
Er hob den Kopf. Er zögerte kurz, dann schaltete er den Fernseher aus.
»Sie kommen ziemlich spät heute.«
Ich ging zu ihm. Sah ihn an. Er wirkte einsam, unendlich müde. Ich zog den Stuhl zu ihm heran und setzte mich. Dann nahm ich das Foto aus der Tasche, das ich bei Nan gefunden hatte.
Ich legte es langsam vor ihn hin. Er sah mich an und rückte die Brille zurecht.
Er nahm das Foto, hielt es dicht vor seine Augen. Ich hörte, wie seine trockenen Finger
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