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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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eine tiefe Vertrautheit.
    Umarme Mutter von mir.
    Théo holte ein Foto aus dem Schrank und legte es neben die Briefe.
    »Das ist er … Das ist Michel.«
    Die Lampe schien auf das Foto und erhellte das Gesicht eines Mannes, der an einem Tisch saß. Gekleidet in eine hellbraune Kutte mit einer Kapuze auf dem Rücken. Die Hände hatte er
vor sich gefaltet, ein Buch lag offen auf dem Tisch. Ein anderes Buch, kleiner als das erste, lag geschlossen daneben. Eine weiße Schale. Der Mann hatte die Augen auf das Buch gesenkt. Das Licht im Raum kam vom Fenster, es fiel auf die Tischplatte, strahlte die Schale an und eine Seite des Gesichts, während die andere im Schatten blieb. Man sah von dem Zimmer nichts anderes als diesen Mann, der am Fenster saß.
    »Sie müssen ihn gesehen haben, bei Florelles Beisetzung.«
    Ich hob den Kopf und sah Théo an.
    Plötzlich tauchte das Bild vor mir auf, ein Mann in Schwarz mit einem langen Mantel. Er war abseits geblieben, ohne mit jemandem zu sprechen. Ein Mann mit ausgezehrtem Gesicht und sehr klaren Augen. Ein Taxi hatte ihn vor dem Tor abgesetzt. Dann war die Mutter gekommen, und ich hatte nicht mehr auf ihn geachtet.
    Théo nickte.
    »Er ist mit dem Mittagszug gekommen und am Abend wieder gefahren. Nach der Beisetzung war er hier. Zwanzig Jahre hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Wir haben miteinander gesprochen. Das Taxi hat gewartet.«
    »Woher hat er von Nans Tod gewusst?«
    »Ich habe ihn angerufen, und er ist gekommen.«
    Ich erinnerte mich. Plötzlich schien sich alles aufzuklären, alles seinen Sinn zu bekommen.
    »Der Anruf, das war an dem Tag, als Sie von Lili eine Telefonkarte verlangt haben, ja?«
    »Ja, das war an diesem Tag. Florelle war am Vortag gestorben.«
    Er drehte den Kopf und schaute zum Fenster. Der Abend brach herein. Der Hof wurde zu einem Schlupfwinkel von Schatten, man sah nur die gelben Augen der Katzen aufblitzen, die vorbeisausten.

    »Ich wusste nicht, ob er kommen würde … Wenn man dort anruft, wissen Sie, das ist irgendwie seltsam … Man hinterlässt eine Nachricht, und der Mönch, der am Telefon sitzt, gibt sie weiter.«
    »Haben Sie ihm gesagt, dass sein Bruder da ist?«
    »Ja. Er weiß, dass er einen Bruder hat, ich habe es ihm schon vor langer Zeit geschrieben.«
    »Und er hat niemals versucht, ihn zu treffen?«
    »Sie werden sehen, er ist ein außergewöhnlicher Mensch.«
    »Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Michel hat jetzt andere Brüder … Das alles hat für ihn eine andere Bedeutung.«
    »Das alles?«
    »Das wirkliche Leben …«
    »Und Nan?«
    Er sah mich an. Seine Worte stiegen tief aus seiner Kehle auf, ich hörte sie kaum.
    »Was Nan?«
    »Nan, warum suchte sie ihn? Wusste sie nicht, wo er war?«
    »Doch, sie wusste es … Aber sie wollte nicht so an ihn denken. Die Vorstellung, dass er sich freiwillig eingeschlossen hatte, auch das Schweigegelübde … Sie hat seine Briefe nie gelesen. Sie wollte, dass er zurückkommt, aber ich wusste genau, dass er nicht zurückkommen würde.«
    Er sah das Foto an.
    Seine Stimme war ein Flüstern. »Er spricht nicht, nur ein paar Stunden pro Woche. Er erklärt es in seinen Briefen, Sie werden es lesen, diese Momente, in denen das Wort möglich ist. Er sagt, das seien seltene und kostbare Momente.«
    Er klappte die Schachtel zu und schob sie mir hin.

    »Ich habe viel aus seinen Briefen gelernt. Sie werden sie lesen, nicht wahr, und sie seinem Bruder geben.«
    Ich nahm die Schachtel in die Hände. Das, was ich gelesen hatte, hatte mir Lust gemacht, mehr zu erfahren.
    Er nahm die Brille ab, die Gläser waren beschlagen.
    »Sein Medaillon, die Sachen, die er anhatte, als sie ihn gefunden hat, der Strick, mit dem er auf dem Floß festgebunden war, das ist alles bei Florelle.«
    »Lambert hat danach gesucht, aber er hat nichts gefunden.«
    Sein Blick blieb im Leeren.
    »Hinter den Kleidern, ganz unten im Schrank.«

S eit Morgane weg war, legte Raphaël den Stein nicht mehr vor die Tür. Man konnte sein Atelier betreten, wann immer man wollte. Er sah mich mit der Schachtel unter dem Arm vorbeigehen und rief mich. Ich sagte, ich sei müde, er antwortete, ich würde nie so müde sein wie er. Er nahm mich am Arm und zog mich zum Tisch. Die Aschenbecher waren voll. Die Papierkörbe quollen über.
    Ein kleiner Seiltänzer aus Gips schwebte zwischen diesem ganzen Durcheinander, er hielt das Gleichgewicht auf seinem Seil.
    »Morgane hat einen davon verkauft, fast

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