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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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sah er mich an.
    »Interessiert Sie dieser junge Mann?«
    Ich antwortete nicht, sondern zog den Vorhang zurück.
    »Dieses Haus, glauben Sie, dass es ihm gehört?«
    »Wenn er der Sohn der Peracks ist, ganz bestimmt … Ich erinnere mich, die Mutter war sehr schön. Der Vater war uninteressant, aber sie …«
    »Was ist passiert?«
    »Ein Unfall, als sie von Aurigny zurückgekommen sind. Es war bereits dunkel, ihr Segelboot ist gekentert. Ein kleines Kind war auch bei ihnen. Eine sehr traurige Geschichte.«
    »Und er, er war nicht auf dem Boot?«
    »Nein. Was interessiert er Sie so sehr? Er ist doch ziemlich gewöhnlich.«
    Darüber musste ich lachen.
    Er erzählte mir, in dem Haus würde es spuken.
    Lili ging zur Tür, das Geschirrtuch über der Schulter.
    »Da drin gibt es mehr Ratten als Gespenster!«, schimpfte sie und schaute hinaus auf die Straße.
    Monsieur Anselme zog die Brauen hoch.
    »Was spukt?«, fragte ich.
    »Wer, meinen Sie wohl? Ein schöner junger Kapitän, ein gewisser Sir John Kepper, sein Schiff soll vor dem Raz Blanchard untergegangen sein. Alles, was sich an Bord befand, wurde an den Strand geschwemmt, und einige Sachen haben sich in diesem Haus wiedergefunden.«
    Er packte mich am Arm und zog mich näher zu sich heran.
    »In Gewitternächten konnte man ein Licht hinter dem Fenster sehen, ein Licht wie eine Flamme. Manchmal war die Flamme in der oberen Etage. Dann wieder beim Dachfenster. Die, die nicht
daran glauben, sagen, dass sich der Mond in den Scheiben gespiegelt hat, aber in Gewitternächten gibt es keinen Mond …«
    »Haben Sie denn das Licht schon mal gesehen?«, fragte Lili.
    »Nein. Aber ich kenne Leute, die es gesehen haben.«
    »Ich wohne nun seit zwanzig Jahren hier gegenüber, aber ich habe noch nie irgendwas gesehen.«
    Monsieur Anselme wandte sich mir zu.
    »Angeblich wurde der Dachstuhl aus dem Holz des Schiffes gebaut. Man erzählt sich auch, dass ein Geschirrschrank mit dem ganzen Geschirr von Sir John Kepper dort drin steht.«
    »Das ganze Geschirr! Jetzt übertreib mal nicht«, rief Lili. »Und wieso sollte ein Kapitän ausgerechnet wegen einem Stapel Teller in einem Haus herumgeistern!«
    Die Mutter hörte uns aus der Tiefe ihres Sessels zu. Sie wackelte leicht mit dem Kopf. Dann stützte sie sich mit einer Hand auf den Tisch.
    »Ich habe das Licht gesehen …«, sagte sie und versuchte sich aufzurichten.
    »Mehrmals, nachts … Das ist lange her … In Gewitternächten hat es öfter gespukt.«
    Ihre Stimme krächzte wie eine schartige Klinge.
    »Ich habe den Schatten dahinter gesehen und die Hand, die das Licht hielt.«
    Monsieur Anselme und ich sahen uns an.
    Er deutete ein Lächeln an.
    »Dorfgeschichten«, sagte er.
    Lili ging hinter ihren Tresen zurück und faltete Geschirrtücher zusammen. Sie legte sie zu einem unregelmäßigen Stapel übereinander, dann glättete sie ihn mit der flachen Hand und verstaute ihn im Schrank unter der Kasse. Angeblich bewahrte sie darunter einen doppelläufigen Revolver auf. Bislang hatte diesen Revolver niemand je gesehen, aber Max wusste zu berichten,
dass sie damit ein Wildschwein in die Flucht geschlagen hatte, das sich zu weit in den Garten gewagt hatte.
    »Sagen Sie, Madame Lili, Sie müssten sich doch an den Unfall der Peracks erinnern?«
    Sie schaute auf.
    »Das ist lange her …«
    »Aber trotzdem, so ein Unfall … Dieser Junge, der heute im Haus gegenüber war, könnte das der ältere Sohn sein?«
    »Könnte sein, ja.«
    »Sie hatten zwei Kinder. Eins ist umgekommen, aber das andere …«
    »Das ist vierzig Jahre her, selbst wenn er es wäre, wie sollte ich ihn wiedererkennen?«
    Monsieur Anselme nickte.
    »Das war ’67.«
    »’67 war ich noch jung.«
    Monsieur Anselme beugte sich zu mir.
    »Damals ging das Gerücht um, es habe ein Problem mit dem Licht im Leuchtturm gegeben … Ihr Vater habe …«
    Er sagte es ganz leise, kaum hörbar.

T héo betrat das Lokal.
    »Guten Tag, Théo«, sagten die Alten.
    Er antwortete nicht. Er antwortete nie. Die Alten begrüßten ihn trotzdem.
    Als sie ihn sah, griff die Mutter nach ihrer Tasche.
    »Der Alte …«, knirschte sie vor sich hin, den Bauch gegen den Tisch gedrückt. Sie musste es zehnmal wiederholen, ehe er sich kurz zu ihr umdrehte.
    »… Tag, Alte.«
    Théo quälte es aus sich raus, tief aus der Kehle, und die Alte verstummte.
    Lili bediente ihn, wie sie die anderen bediente. Tasse auf den Tresen. Kaffee in die Tasse.
    Stumm, der Vater und die Tochter.
    Sie

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