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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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zog einen Geldschein aus der Tasche und legte ihn neben die Spüle. Dann lief er um den Tisch herum und schloss die Schachtel, in der die Briefe lagen.
    In der Stille hörte ich den Regen. Ich wollte gehen, nahm den Geldschein und ging zur Tür.
    Théo hatte seine Mütze fast über die Augen gezogen. Er steckte Holz in den Ofen. Ich sah seinen Rücken, die schmalen Schultern im Bademantel.
    Der Brief lag immer noch auf dem Tisch. Regentropfen liefen hinter dem Bett an der Wand herunter. Auf dem Fußboden waren Wischtücher ausgebreitet. Die Katzen sahen sich an. Théo spannte einen Regenschirm auf und stellte ihn aufs Bett.
    »Regen von Süden«, sagte er. »Nicht der kälteste, aber er geht direkt unter die Ziegel.«
    Jetzt fielen die Tropfen auf den Regenschirm, sie rannen zu Boden und versickerten in dem Haufen aus Wischtüchern.
    Théo verschob die kleine Pendeluhr. Jede Stunde blieben die Zeiger hängen und gingen zwei Minuten nach.
    »Können Sie sich das vorstellen? Zwei Minuten pro Stunde, so viel geht sie nach. Ein Fehler im System, ich hätte sie reparieren lassen sollen …«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Inzwischen ist es wie eine Verabredung von ihr und mir, dieser Moment, wo die beiden Minuten verloren gehen.«
    Er sah mich an, lange, prüfend, aufmerksam.
    »Irgendwann erzähle ich Ihnen von diesen Briefen.«
    Er wollte noch etwas hinzufügen, als die Tür aufging. Sie knallte gegen die Wand. Die Katzen hoben die Köpfe. Es war Nan, sie hatte ihr weites schwarzes Kleid an, aus ihrem Haar
troff Wasser, das dunkel und schmutzig war. Über dem Kleid trug sie einen breiten Wollschal.
    Als sie mich sah, blieb sie auf der Schwelle stehen, eine Hand an der Kehle. Die Finger der anderen Hand schlossen sich um etwas, das sie fest an sich drückte.
    Sie war eine seltsame Priesterin, eine Fischfrau, die aus dem Wasser oder einer anderen unterirdischen Welt gestiegen zu sein schien. Und auf dem Gesicht trug sie die erschreckende Maske einer Gorgone.
    »Ich wollte gerade gehen«, sagte ich.
    Sie drückte sich an die Wand. Als ich an ihr vorbeiging, spürte ich ihren starken Geruch nach Schweiß und Torf.
    Ich sah nicht, was sie in der Hand versteckt hielt.

L ambert hatte lange von den Verschwundenen gesprochen, von jenen Toten ohne Körper und ohne Begräbnis. Wir waren zusammen in der Grotte gewesen. Das Feuer hatte gebrannt, und er hatte gesagt, dass Verschwundene Tote ohne Beweis seien und dass es für Tote, die das Meer behielt, keinen Abschied gebe.
    Das Halbdunkel um uns herum hatte seinen Worten zusätzlich Bedeutung verliehen. Worte, die ich gehört und behalten hatte und die mir später immer wieder in den Sinn kamen.
    »Das Verschwinden meines Bruders hat mich aus dem Gleichgewicht gebracht.« Das hatte er gesagt und dabei versucht zu lächeln. Ich hatte an dich gedacht. Ich hatte dich tot gesehen, schon lange bevor dein Herz aufgehört hatte zu schlagen. Tag für Tag drang der Schatten in dich ein. Mein Schrei, wie der einer Wahnsinnigen, danach, aber ich konnte dich wenigstens beweinen, konnte selbst beinahe sterben.
    Wie hätte ich schreien können, wenn ich dich nicht hätte begraben können?
     
    Als ich am Bauernhof ankam, nieselte es. Die Sau stand auf dem Hof, die Füße im Schlamm. Sobald sie mich sah, kam sie auf mich zu. Ich drückte das Gesicht an ihren feuchten Blick. Ihr guter, dicker Kopf zwischen meinen Händen.

    »Du bist ganz schmutzig, meine Schöne …«
    Ihre Augen waren sanft, voller Tränen, aber die Tränen flossen nicht.
    Die kleine Bachstelze war im Haus. Sie klopfte ans Fenster. Ich winkte zurück. Sie war das größte der Kinder, aber ich wusste nicht, ob sie die Älteste war. Oft hatte ich gesehen, wie der Vater sie schlug, Ohrfeigen, die er ihnen mit der flachen Hand versetzte. Die beiden größeren konnten den Schlägen standhalten, die kleineren jedoch wurden weggeschleudert. Sie würden wachsen. Weggehen.
    Der Vater hatte ihnen Spitznamen gegeben, der Älteste wurde Rotznase gerufen, der Kleinste Pisser . Dann gab es noch die Weide . Dieser Junge hatte seltsame Augen. Er ging nicht zur Schule. Auch die Kühe hatten Namen, Marguerite , Rose  … Wenn der Vater ihre Kälber anschaute, sah er das Fleisch, den Preis, den sie auf dem Tisch des Metzgers pro Kilo bringen würden. Ich wusste nicht, was er sah, wenn er seine Kinder anschaute.
    Zwischen alldem war die Mutter ein schüchterner Schatten, den ich manchmal auf dem Hof erblickte.
    Ich setzte meinen Weg fort.
    Bei

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