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Die Braut des Florentiners - TB 2006/2007

Titel: Die Braut des Florentiners - TB 2006/2007 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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»Ich habe das hier gesehen«, sagte er. »Die Morde, die Bestialität, die absolute Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid anderer.« Er wusste, dass sie nicht verstehen würde, was er eigentlich meinte, so wenig wie er ihr Gleichnis mit den Vögeln verstanden hatte. Was er gemeint hatte, war nicht die Szene von heute Nachmittag, sondern die vor drei Jahren, die in seinem Gedächtnis stets oben schwamm und ihn – wie hatte Fabio es ausgedrückt? – jeden zweiten Morgen mit dem Gedanken: Mensch, das habe ich getan! und mit dem Gefühl, sich sofort übergeben zu müssen, aufwachen ließ.
    »Du bist bei denen, die verhindert haben, dass es noch schlimmer wurde«, sagte Schwester Magdalena zu Lorenzos großer Überraschung. »Was gefällt dir daran nicht?«
    »Das zählt nicht!«, platzte er heraus. »Das geschah aus ganz eigennützigen Motiven!«
    »Wenn Judas Ischariot nicht den Herrn verraten hätte, hätte sich Gottes Wort nicht erfüllen können, und die Menschen wären nicht erlöst worden.«
    »Das Gleichnis hinkt.«
    »Und wenn schon. Die Wahrheit, die darin liegt, bleibt.«
    »Welche Wahrheit sollte das sein?«
    »Dass sieben Männer heute ohne auf die Gefahr zu achten über zwanzig Feinde angegriffen und damit das Leben vieler Menschen gerettet haben.«
    Lorenzo schwieg. »Völlig umsonst«, sagte er schließlich. »Aber das passt vermutlich auch in Ihr Gleichnis von vorhin. Oder haben Sie nicht das Gefühl, Jesus Christus ist umsonst am Kreuz gestorben, wenn Sie die Welt betrachten?«
    »Nicht umsonst. Wir können die Dörfler vor der Schwarzen Schar retten.«
    Wir, dachte Lorenzo. Cortos Wolfspack, verstärkt durch einen heimlichen Verräter, eine Handvoll Gefangener – die unbesiegbaren Cantafini-Burschen, der seine Gegner zu Tode lächelnde Francesco Giallo sowie Clarice Tintori, die ihren Untergang einfach nicht akzeptieren würde – sowie Schwester Magdalena mit ihren Kampfnonnen. Er spürte, wie er unwillkürlich grinste. Sie starrte ihn ohne jegliches Lächeln an.
    »Wir können das Dorf nicht gegen die Schwarze Schar halten«, sagte er schließlich. »Hundert Mann würden nicht ausreichen.«
    Im selben Moment wusste er, was sie dachte; worauf sie die ganze Zeit hinausgewollt hatte. Er starrte in die prüfenden Augen in ihrem schmalen, scharf gezeichneten Gesicht und erkannte das Flackern darin, das bedeutete, dass sie um seine Erkenntnis wusste, und obwohl sie schwieg, war ihm, als hörte er sie sagen: Nein – aber wir können die Dörfler auf unserem Rückzug mitnehmen.
    Lorenzo fand Corto am Ufer des Baches, der sich hinter dem Dorf vorbeiwand. Er hatte nicht lange zu überlegen brauchen, wo er nach Corto suchen musste. Die Wasseroberfläche schimmerte, obwohl der Nebel Mond und Sterne erstickte und die beiden Feuer des Dorfes von den Hütten verdeckt wurden. Es war still bis auf das rasche Gluckern und Schlucken des Wassers, das sich seinen Weg um die kleinen Hindernisse bahnte, die das grasige Ufer ihm entgegenstellte. Lorenzo dachte an Enrico und seine Armbrust und rief, sobald er die hockende Gestalt gegen das Schimmern des Wassers sah: »Corto? Ich bin’s – Lorenzo.«
    »Schon gut«, sagte Cortos Stimme. »Ich bin hier.«
    Er hockte auf seinen Fersen hart am Rand des Wassers. Als Lorenzo sich neben ihn kauerte, sah er auf. Im schwachen Widerschein des Wassers erkannte Lorenzo ein schiefes Lächeln auf Cortos schmalem Gesicht.
    »Nicht der Po«, sagte Lorenzo und deutete auf das schimmernde Band vor ihnen.
    »Nein, nicht der Po.« Corto rupfte ein Büschel Gras aus und flickte es mit einer Handbewegung in den Bach. Es war ein paar Augenblicke lang ein ungewisser Schatten im Lichtschimmer, dann trieb es davon. Der Bach lief ohne dramatische Kurven, aber er lief in die Dunkelheit hinein, und was auf ihm schwamm, musste in diese Dunkelheit und dort verschwinden. »Aber wenn man sich viel Mühe gibt, kann man sich einbilden, er wäre es.«
    Lorenzo überlegte, wie er beginnen sollte. Von dem Augenblick an, als Magdalena den Vorschlag gemacht hatte, die Dörfler mitzunehmen, hatte er gewusst, dass sich damit die Lösung für sein Dilemma präsentierte. Die Dörfler würden das Wolfspack bis fast zum Stillstand verlangsamen; zusammen mit den Bauern und ihren Familien würde sich ein Heerwurm ergeben, der fast gezwungen war, einigermaßen befestigte Straßen zu benutzen, und er würde die Aufmerksamkeit jedes Reisenden, Pilgers oder Vogts erregen. Lorenzo rechnete mit nicht mehr als drei bis

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