Die Braut des Florentiners - TB 2006/2007
einen Schleier aus Grauen getrennten Gesichtsausdruck hatte sie nie gesehen, und ohne selbst Kinder zu haben, wusste sie doch, dass dieser auf einem Kindergesicht auch nichts zu suchen hatte. Was immer ihr besonderer Sinn an Schwingungen empfing, war so von Entsetzen erfüllt, dass sie über jeden Augenblick froh war, an dem ihre Fähigkeit stumm blieb.
Sie hatten den Wald schon längst hinter sich gelassen und bewegten sich durch lichtes Gebüsch. Die Dunkelheit wich langsam einem Grauton, der andeutete, dass die Prim nicht mehr fern sein konnte. Solange sie konnten, liefen sie – eine lang gestreckte Reihe, bei der Lorenzo und die meisten der Wölfe, die Corto seiner Gruppe zugeteilt hatte, die Spitze bildeten, während die zu Tode erschöpften Dörfler in langem Abstand hinterdreinkamen. Magdalena war selbst überrascht, dass sie nicht nur vorne mithalten konnte, sondern sogar, wann immer Lorenzo stehen blieb und die gesamte quälend lange Schlange an sich vorbeitaumeln ließ, um festzustellen, wie viele er bereits verloren hatte, ihm Gesellschaft leisten und nachher mit ihm wieder nach vorne laufen konnte.
Wenn sie an den Überfall auf ihr Lager dachte, sah sie immer wieder den Trosswagen vor sich – wie Corto ihn kaltblütig mitten ins Lager gelenkt hatte, wie die Männer sich an ihn klammerten und so dem letzten Ansturm der Reiter entgingen, wie er plötzlich in Flammen gestanden hatte, wie die eine Hälfte der Männer rufend und hustend und fluchend die Verletzten aus dem Feuer zerrte, während die anderen mit Decken und geschaufeltem Dreck die Flammen zu ersticken versuchten; am meisten hatte sich jedoch das Bild in ihr Gedächtnis eingebrannt, wie sich zuletzt der noch immer rauchende Trosswagen, nun nicht mehr als ein rußgeschwärztes Skelett auf quietschenden Rädern, mit all den Verletzten darauf in Bewegung setzte und zwischen den Bäumen verschwand, ein Symbol der Niederlage und der Unbeugsamkeit gleichermaßen.
Die Verluste, die ihnen beigebracht worden waren, waren immens: Drei der Dörfler waren tot, drei weitere würden binnen Kurzem sterben, fünf konnten es schaffen, wenn sie Glück hatten. Mehrere von den Wölfen waren verletzt, einer von ihnen war gestorben, noch während Magdalena versucht hatte, seine Wunden wenigstens notdürftig zu säubern. Sie hatten ihn zusammen mit den anderen Toten beim Lager zurückgelassen, als sie aufgebrochen waren; die Wölfe waren einer nach dem anderen an ihm vorbeidefiliert, hatten ihm zugenickt und »Mach’s gut, Pio-Pio« gesagt, als hofften sie, der Tote würde sich aufrichten und » Nur Pio, wenn ich bitten darf!« erwidern.
Corto hatte seine Truppe aufgeteilt, ohne viele Worte darüber zu verlieren. Zumindest Magdalena hatte sie nicht benötigt; ihr war sofort klar gewesen, dass sie gegen die Reiter nur dann eine Chance hatten, wenn sie in mehreren Kolonnen weiter vorrückten. Die Reiter waren zu wenige, um sich selbst effektiv aufteilen zu können, und wenn sie versuchten, die drei Marschkolonnen nacheinander anzugreifen, mussten sie jede Menge Zeit mit der Suche nach ihnen verschwenden. Die Art und Weise, wie Corto die Aufteilung vorgenommen hatte, hatte sie ebenfalls nicht überrascht; sie sprach dafür, dass Corto sich diese Option schon überlegt hatte, als er den Entschluss fasste, mit den Dörflern zusammen zu flüchten. Sie hatte lediglich dagegen aufbegehrt, dass sie von Radegundis und Immaculata getrennt wurde, aber Corto hatte sich nicht umstimmen lassen.
Fabio führte einen Trupp zusammen mit Verruca, dem jüngsten der Wölfe, und zwei, drei anderen, deren Namen sie nicht kannte. Corto hatte ihnen Schwester Radegundis beigesellt.
Von Lorenzos entschlossener Verteidigung des Lagers war Corto offenbar beeindruckt genug gewesen, um ihm den zweiten Trupp zu überantworten. Urso hatte nur gegrinst und Lorenzo in einen spaßhaften Würgegriff genommen; dass Corto auch noch Enrico zum zweiten Trupp eingeteilt hatte, sprach dafür, dass er Lorenzo nicht hundertprozentig vertraute. Enrico, dessen Haare sich vor Wut aufstellten, sobald er nur in die Nähe Lorenzos kam, würde besser als jeder andere auf den Neuen aufpassen. Als sie erkannt hatte, dass Corto dabei bleiben würde, die drei Schwestern nicht zusammen zu lassen, hatte sie sich zu Lorenzos Gruppe gemeldet – ihr Mund hatte schneller gesprochen, als ihr Gehirn mit dem Denken nachgekommen war, und danach war es zu spät, die Sache noch einmal neu zu sortieren.
Corto behielt die
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