Die Braut des Florentiners - TB 2006/2007
plötzlich einen Stich, als sie erkannte, dass sie ihm nur schildern konnte, wie es innerhalb von Gebäuden aussah – in ihrem Elternhaus in Piacenza und der Werkstatt ihres Vaters, im Kloster von San Sisto, später in San Paolo … Gebäude, die er niemals würde betreten können, um sie sich von ihr zeigen zu lassen. Sie glaubte, eine Schwingung zu spüren, die genau diesen Wunsch beinhaltete: Zeig mir, was dein Leben bestimmt und dich zu dem gemacht hat, was du bist – oder lag es daran, dass sie diesen Wunsch in Bezug auf ihn spürte? Sich von ihm auf einen Berggipfel führen und das Meer zeigen zu lassen, das Rauschen der Bäume bewusst als das Rauschen der Wellen zu empfinden? Sie räusperte sich.
»Was hat dich hierher verschlagen, Lorenzo, wenn es in der Garfagnana so schön war?« Sie hörte ihren Worten nach und erschrak darüber, wie grob sie geklungen hatten. Noch bestürzter war sie, als sie spürte, wie sich sein Geist dem ihren unvermittelt wieder verschloss.
Er musterte sie. Sie wusste, dass er log, als er sagte: »Nur der ganz normale Lauf der Dinge, Schwester.« Er spähte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Ich glaube, die Nachzügler sind durch.«
Magdalena biss sich auf die Lippen, dass sie diesen Moment zwischen ihnen zerstört hatte. Beinahe verzweifelt starrte sie in die gleiche Richtung wie er, hoffend, dass noch jemand herantaumeln möge, hoffend, dass ihnen noch ein paar Augenblicke beschieden waren, in denen sie versuchen konnte, die Nähe wieder herzustellen. Aber aus dem Nebel und dem Nieselregen tauchte keine verlorene Gestalt mehr auf. Lorenzo wandte sich ab.
»Dann los, Schwester.«
In diesem Moment sahen sie einen der Wölfe, der auf sie zurannte und schon von Weitem rief: »Lorenzo, komm schnell. Enrico braucht dich!«
Enrico kauerte auf dem Boden und sah zu ihnen auf. Das Kind, das er getragen hatte, ein Mädchen von vielleicht acht oder zehn Jahren, lag mit dem Kopf auf seinem Schoß und mit schlaffen Gliedern im Gras. Ihre Augen waren offen, ihr Gesicht blass, ihre Lippen erschreckend blau. Magdalena warf einen Blick auf ihre Fingernägel. Unter dem Dreck waren sie so blau, als hätte jemand sie mit Indigo bemalt. Sie atmete so schnell, als wäre sie eine lange Strecke gerannt, und so flach, dass sie dabei kaum Luft bekommen konnte.
»Das hat plötzlich angefangen«, sagte Enrico verbissen.
Lorenzo kniete neben ihm nieder. Magdalena raffte ihren Habit und kniete an der anderen Seite. Die Augen des Kindes rollten hin und her, ohne etwas zu sehen. Magdalena versuchte mit ihrem besonderen Sinn den Geist des Mädchens zu erreichen, aber alles, was sie fühlte, war das vage Zucken eines Bewusstseins, das schon sehr weit weg war und auf die Grenze zutrieb, von der es kein Zurück gab. Sie fühlte die Schwingungen der Männer und Frauen, die um sie herum standen, und wusste, dass diese das Mädchen bereits aufgegeben hatten. Sie konnte ihnen keinen Vorwurf machen. Selbst Urso, seinerseits mit einem Kind auf dem Arm, zog eine hoffnungslose Miene.
»Hat sie was verschluckt?«, fragte sie.
Enrico schüttelte den Kopf. »Was gäbe es denn hier zum Verschlucken?«, zischte er.
Erstaunt wurde ihr bewusst, dass der bärbeißige, jähzornige Mann Angst davor hatte, dass das Kind, das er die ganze Strecke getragen hatte, sterben würde. Sie sah ihn wieder vor sich, wie er mit der Armbrust auf Bruder Girolamo gezielt hatte und ihn erschießen wollte, aus dem Schrecken heraus, dass dieser Corto hätte ermorden können. Sie nahm eine der leblosen Hände des Kindes in die ihren und sagte hiflos: »Ich habe Kräuter gesammelt, aber die habe ich Corto überlassen. Und ich wüsste auch nicht …«
Lorenzo beugte sich hinab und drückte den Unterkiefer des Kindes noch weiter auf. Der Atem des Mädchens wurde lauter und schneller. Er spähte in den Mund hinein. Als die Atemgeräusche plötzlich ganz aussetzten, war es Magdalena, als hätte jemand sie ins Gesicht geschlagen. Ungläubig starrte sie in das bleiche Gesicht und sah zu, wie die Augen nach oben rollten.
»Verdammt!«, flüsterte Enrico. Magdalena empfing eine Schwingung, die so nahe an der Hysterie war, dass sie erwartete, Enrico würde aufspringen und schreiend davonlaufen.
Lorenzo schob eine Hand unter den Nacken des Kindes und hob es von Enricos Schoß auf den Boden. Er handelte schnell und als ob er einer inneren Anleitung folgte. Nur Magdalena vernahm die Panik, die er unterdrückte, als er versuchte, sich zu
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