Die Braut des Florentiners - TB 2006/2007
jemals gerochen hatte, und sich wie ein feuchtes Tuch um ihr Gesicht legte. Schwester Immaculatas Augen weiteten sich. Ihr Kiefer fiel herab, die Faust folgte Magdalenas Zug und gab den Mund frei, und die junge Frau begann zu schreien.
Schwester Immaculata kauerte abseits im hohen Gras und schluchzte. Schwester Radegundis bemühte sich um sie. Als die Männer alle unwillkürlich zurückgewichen waren, hatte auch sie einen Blick auf den Leichnam erhaschen können. Sie hatte die Hände vor den Mund geschlagen und trocken gewürgt, sich ansonsten aber tapfer gehalten. Die Mönche knieten neben der Leiche auf dem Boden und beteten für die arme Seele, offenbar unbeeindruckt von Gestank und Anblick. Magdalena stand für sich allein und beobachtete die beiden anderen jungen Frauen. Wären der Gestank, das Fliegengesumm, vor allem aber die Erinnerung an das nicht gewesen, was die Leiche offenbart hatte, nachdem sie umgedreht worden war, hätte das Bild geradezu bukolisch sein können: die jungen Frauen in der Schwesterntracht, die im hohen Gras saßen und sich gegenseitig in den Armen hielten, im Hintergrund das helle Band der Straße mit den hohen, im Wind sich leise regenden Pappeln und darüber der tiefblaue Spätsommerhimmel, über den die Silhouetten von Vögeln zuckten. Falken, dachte Magdalena unwillkürlich, hier gibt es echte Falken, und die Tauben, die sich hierher verirren, werden von ihnen geschlagen.
»’ne Schweizer Pike«, murmelte einer der drei Waffenknechte. »Die haben verfluchte Haken unten an der Klinge. Sie stechen sie dir in den Bauch, drehen sie einmal rum, und wenn sie sie wieder rausziehen, reißen sie dir alle Därme raus.«
»Keine Pike«, hörte sie die halblaute Stimme des Scharführers. »Ich sage euch, das war eine Flintenkugel. Denkt an das Loch im Rücken.«
»Das glaub ich nich’ …«
»Doch. Die Kugel verformt sich, wenn sie dich trifft. Rein geht sie als Kugel, raus geht sie als zackiger Pilz, wenn sie nicht gleich in ein Dutzend Splitter zerplatzt. Rein macht sie ein Loch, raus reißt sie deine Bauchdecke und deine Eingeweide auf … pluff !«
»Das arme Schwein hätte doch gleich tot sein müssen.« Der dritte Waffenknecht, der mit der Angst davor, den Anschluss zu verlieren. In Magdalenas Kopf machten ihre Gedanken hilflose Purzelbäume angesichts der halb gehörten Unterhaltung, ihr Magen revoltierte.
»Muss nicht sein. Du siehst ja, wie weit er es noch geschafft hat und seine Därme hinter sich herzog.«
»Ich glaub nich’, dass es ’ne Flinte war. Keiner schießt mit der Flinte auf einen waffenlosen Idioten, der die Hosen voll hat und davonrennt. Viel zu teuer. Außerdem wäre der Kerl über alle Berge, bis du bloß mal das Pulver eingefüllt und die Lunte angezündet hast. Auf größere Entfernung treffen die Büchsen nicht mal ’n Scheunentor.«
»Ja«, sagte der Scharführer. »Das ist das Rätsel daran, nicht wahr?«
Magdalena stand hilflos halbwegs zwischen ihren abseits kauernden Schwestern und den Waffenknechten. Sie fühlte sich, als würde sie nirgends dazugehören. Die Angst, die sie fühlte, war so mächtig, dass sie sich nur an einen einzigen Zeitpunkt in ihrem Leben erinnern konnte, an dem sie ebensolche Furcht gespürt hatte – an ihrem ersten Tag im Kloster.
In der Nacht zwischen dem Abschiedsgespräch mit der Äbtissin und dem Aufbruch hatte sie schlaflos in ihrer Zelle gelegen und versucht, einem hartnäckig immer wieder auftauchenden Gedanken keinen Raum zu geben: dem Gedanken, dass sie die Verbannung nach Santa Giuliana und der vermutlich auch von dort folgenden weiteren Verbannung entgehen konnte, indem sie von sich aus die Konsequenzen zog und um Befreiung von ihrem Gelübde bat. Danach konnte sie versuchen, ihr Glück in der Welt zu machen.
Sie hatte den Gedanken schließlich zum Schweigen gebracht – oder doch nicht. Unhörbar war er immer noch da gewesen, das erkannte sie jetzt, unhörbar, aber doch stark genug, um ihr die Kraft zu geben, über die alte Straße vorwärtszumarschieren. Und nun? Da war sie, die Welt, in der sie sich behaupten wollte, die sie zuletzt als kleines Mädchen gesehen hatte – und sie stellte sich ihr nach noch nicht einmal drei Tagen als ein Platz vor, an dem Schwerverletzte sich durch das hohe Gras schleppten, bis sie von allen unbeachtet und ohne die Gnade der letzten Ölung in der heißen Spätsommersonne starben. Sie hatte volles Verständnis für Schwester Immaculata und dafür, dass sie vor Entsetzen
Weitere Kostenlose Bücher