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Die Braut des Florentiners - TB 2006/2007

Titel: Die Braut des Florentiners - TB 2006/2007 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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war besonders gespenstisch daran gewesen: dass sich sein Heulen weder linderte noch steigerte, egal, was sie mit ihm anstellten. Manchmal ist das Entsetzen so groß, dass es nichts gibt, was es noch vergrößern kann, und manchmal ist es zu groß für jede Maßnahme, die es wieder verkleinern soll.
    Ihre Bemühungen hatten Stunden gedauert. Die Mönche hatten sich mit den Schwestern abgewechselt, die es mit sanfterem Streicheln der Hände und Schläfen des Unglücklichen und mit ungleich melodischeren Gesängen versuchten. Dann war etwas in Schwester Immaculatas Seele, etwas, das gestern zwar nicht geheilt, aber doch beruhigt worden war, weiter aufgerissen, und sie hatte sich aufgerappelt, ihren Schleier fast herabgezerrt in dem Bemühen, mit den Händen die Ohren zu schützen, und war hinausgestolpert, selbst schreiend und weinend.
    Irgendwann war dann Magdalena allein mit dem Tobenden gewesen; Schwester Radegundis war draußen mit Schwester Immaculata, um sie zu beruhigen, die Mönche – überzeugt, dass es nichts gab, was sie für den Unseligen noch tun konnten – auf der Suche nach etwas Essbarem, das die Angreifer irgendwo in einem der Gebäude übersehen haben mochten. Die Stimme des jungen Mannes war ruiniert, sein Heulen mittlerweile nur noch ein heiseres Stöhnen, seine Finger und Schultern verkrampft und schwach zuckend. Sie hatte ihn betrachtet, während das Mitleid ihr die Tränen übers Gesicht laufen ließ, und dann hatte sie sich an ein viel jüngeres Selbst erinnert, das in der Werkstatt ihres Vaters auf dem Boden kniete und ein kleines Brüderchen im Schoß hielt, das vor Schmerz und Entsetzen brüllte, weil Gips- und Kalkstaub eines seiner Augen verbrannten, während der Vater und die großen Brüder sekundenlang voller Panik zwischen den Bänken und Fässern umherirrten auf der Suche nach einem Becher klaren Wassers.
    Magdalena hatte sich neben den stöhnenden Klosterknecht gekniet, seinen Kopf auf ihren Schoß gezogen, seine Wangen gestreichelt und das nächstbeste Lied gesungen, das ihr in den Sinn gekommen war, das Lied vom Vöglein im grünen Busch, und nach jeder Zeile hatte sie gehaucht: »Alles wird gut.«
    Das Auge des kleinen Bruders war gerettet worden. Der Klosterknecht hatte aufgehört zu stöhnen und war irgendwann eingeschlafen. Magdalena taumelte nach draußen, die Beine eingeschlafen und fühllos, und erkannte erstaunt, dass der Tag sich bereits neigte.
    Die Wolkenwand sah aus wie eine von der Sorte, die in ihrem Inneren langsam und bedächtig ein Unwetter zusammenbraute; eine von denen, die sich manchmal mehrere Tage damit Zeit lassen, ihre Energie zu entladen, während sie sich über die Bäume und Dämme und Ortschaften jener gewaltigen flachen Ebenen legen, die der Po geschaffen hat, und sie selbst im Sommer in einen Nebel hüllen, in dem die Sonne nicht sichtbar und alles, was weiter als zweihundert Schritte entfernt liegt, nur zu ahnen ist. Magdalena drehte sich um und beobachtete ihre Schwestern, die gebückt durch das hohe Gras schnürten auf der Suche nach Wildkräutern. Wie es aussah, hatte Radegundis es diesmal allein vermocht, Immaculata in die Realität zurückzuholen. Magdalenas Lippen verzogen sich zu einem schwachen Lächeln. Dann sah sie die drei dunklen Gestalten der Mönche, die vom Stall her auf sie zukamen, und ihre Kehle zog sich zusammen.
    »Folge mir«, sagte Bruder Girolamo nur, drehte sich wieder um und stapfte zurück.
    Der Platz, auf dem der junge Mann geschlafen hatte, war leer. Wenn nicht das niedergedrückte und von ihren Bemühungen in alle Richtungen verteilte Stroh gewesen wäre, hätte er ebenso gut niemals hier gelegen haben können. Magdalenas Blicke huschten unwillkürlich durch den Stall, aber Bruder Girolamo schüttelte den Kopf. »Er ist nicht hier«, sagte er. »Wir haben in alle Gebäude hineingesehen.«
    »Ich habe ihn doch nicht … Ich habe ihn doch nur ein paar Augenblicke allein gelassen«, stotterte Magdalena.
    Bruder Girolamos Blick war ruhig. »Niemand gibt dir eine Schuld.«
    »Wo ist er hin?«
    Bruder Girolamo zuckte mit den Achseln. »Vielleicht ist er zu sich gekommen und versucht, seine Kameraden zu erreichen.«
    »Dann hätte ihn doch jemand auf der Straße sehen müssen.«
    »Hast du auf die Straße geachtet? Wir haben uns auf die Suche nach Essbarem konzentriert.«
    »Nein«, gab Magdalena zu. »Und meine Schwestern auch nicht.«
    »Was ist mit den Schwestern?«, erklang die relativ muntere Stimme von Radegundis. Sie stand

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