Die Braut des Piraten
Mitgefühl, das nicht nur heilkundige Pflege und willkommene Hilfe im Pferde- und Kuhstall bedeutete, sondern auch geduldiges Zuhören am Küchentisch.
Portia war mit den Kindern ausgeritten, und Olivia genoss die Einsamkeit. Ihre Geistesabwesenheit, an der sie seit der Rückkehr von ihrem Abenteuer litt, beunruhigte ihre Freundinnen. Doch sie hatte nicht die Energie, sich zu verstellen … noch nicht. Sie nahmen an, sie leide darunter, sich mit der Tatsache abfinden zu müssen, dass ihre Zeit mit dem Piraten von kurzlebiger Natur war. Gewiss, dies war Teil ihres Unglücks, wenn auch nur ein ganz winziger.
Sie schaute in das Buch auf ihrem Schoß. Meist vermochte Plutarchs
Leben
sie von allem abzulenken, heute aber wollte der Zauber nicht wirken. Sie hätte einen Text mitnehmen sollen, der sie forderte. Plato etwa.
»Ach, ich treffe Mylady allein und in trauter Zweisamkeit mit der Natur an.« Ein Schatten fiel auf sie und verstellte das durch das Laub des Apfelbaumes gefilterte Licht.
Olivia erkannte die Stimme. »Lord Channing, wie … wie …« Sie blickte auf. Sein dunkles, ein wenig verweichlichtes Höflingsgesicht lächelte ihr zu. Es war immer wieder das Lächeln, das ihr Angst machte – so ohne Wärme, ohne echtes Gefühl. Seine nahe beisammen stehenden Augen schienen von einem merkwürdigen Leuchten erhellt. Ein Raubtierleuchten, das einen Schwärm böser Erinnerungen auslöste.
Sie stand auf, und ihr Buch fiel ins Gras. Sie hörte die Stimmen zweier Gärtner, die am Rand des Obstgartens mit dem Jäten der Beete beschäftigt waren. Auf ihr Rufen würden sie sofort herbeieilen. Sie war nicht allein, und doch ergriff unerklärliche Panik von ihr Besitz. Er würde ihr nichts tun. Natürlich nicht. Er hatte keinen Grund. Er war ja nicht Brian. Aber Brian hatte auch keinen Grund gehabt.
»Rosen, Mylady.« Er präsentierte ihr sein Sträußchen. »Rosen für eine Rose.«
Automatisch griff Olivia nach den dargebotenen Blumen. Sie blickte auf sie hinunter, als wüsste sie nicht, was sie wären. »Danke«, murmelte sie. »Aber Ihr müsst verzeihen, Lord Channing, ich muss ins Haus zurück.«
»Noch nicht. Ihr müsst mir die Gunst gewähren, mich anzuhören.« Er hielt sie auf, indem er eine Hand auf ihren Arm legte.
Olivia schüttelte seine Hand ab. »Nein«, sagte sie. »Gestern sagte ich bereits, dass ich Euren Antrag nicht annehmen kann. Ihr müsst mich jetzt gehen lassen, Sir.« Sie drehte sich um und raffte die Röcke hoch, um davonzulaufen.
Er packte ihr Handgelenk und sagte leise und neckend: »Lauf nicht fort, Häschen.«
Olivia starrte ihn an, momentan nicht im Stande, sich zu rühren. Die Blumen entglitten ihren Fingern. Ihr Verstand war nicht im Stande, die Bedeutung dessen, was er gesagt hatte, zu erfassen. Er lächelte, seine Finger umklammerten unangenehm ihr Handgelenk. Er fasste unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht an.
»Ein Kuss«, sagte er. »Den könnt Ihr mir nicht verweigern. Einen keuschen Kuss, mein Häschen.« Er beugte sich über sie, sein Mund füllte ihr Blickfeld aus, verzerrt und riesengroß.
»Brian!«,
flüsterte sie. Panik erfasste sie. Mit den Nägeln ihrer freien Hand fuhr sie ihm ins Gesicht, als sie sich losriss. Er schrie auf und ließ ihr Kinn los. Sie befreite ruckartig ihr Handgelenk und rannte los. Ihr Atem kam schluchzend. Sie verlangsamte ihren Schritt nicht, auch als sie merkte, dass er ihr nicht folgte, und rannte durch die Bäume in den hellen Sonnenschein der Zufahrt vor die Hufe eines herangaloppierenden Pferdes.
»Olivia!« Anthony zügelte sein Pferd, das knapp vor ihr zum Stehen kam. Aus ihren Augen sprach wilde Panik, als sie durch ihre wirre Haarflut zu ihm hinauf starrte.
»Was ist passiert?« Er saß ab und blickte hastig um sich. Sie befanden sich außer Sichtweite des Hauses hinter einer Biegung der Auffahrt.
»Brian«, keuchte sie. »Es ist Brian.«
»Was ist Brian? Wer ist Brian?« Erschrocken über ihre Blässe und ihre aufgerissenen Augen nahm er sie rasch in die Arme.
»Er ist nicht tot«, stammelte sie. »Er k-kann nicht tot sein. Er schickte … diesen M-Menschen … Er n-nannte mich >Häschen<. Nur Brian hat mich so g-genannt…« Die Worte sprudelten sinnlos aus ihr heraus, während sie sich wie eine Ertrinkende an Anthony klammerte. Seine Arme lagen fest um ihr, er streichelte ihr Haar, da er nicht wusste, was er sonst hätte tun sollen.
Zunächst wurde er nicht klug aus dem Durcheinander ihrer Satzfragmente und begriff erst
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