Die Braut des Piraten
rief er: »Lauf, Häschen, lauf!« Ihr Atem kam stoßweise und brannte in der Lunge. Ihre Kehle war vor Angst und Verzweiflung wie ausgedörrt. Er würde sie fangen wie immer, just am letzten Fenster vor der schweren, mit Eisen beschlagenen Tür, die in den Familientrakt des Schlosses führte. Sie hatte das Fenster fast erreicht, als die Schritte hinter ihr schneller wurden. Er packte sie um ihre Mitte und schwang sie in die Luft
. Sie trat nach ihm und strampelte mit ihren kurzen, bestrumpften Beinchen. Er lachte und hielt sie auf Distanz, sodass ihr Widerstand so wirksam war wie der einer Fliege im Spinnennetz. »Du hast deinem Bruder nicht guten Morgen gewünscht, Häschen«, neckte er sie. »Wie ungezogen. Man möchte meinen, dass du dich nicht freust, mich an diesem schönen Tag zu sehen.«
Er setzte sich auf den breiten Fenstersims, sodass sie auf gleicher Höhe mit ihm war. Sie starrte in sein verhasstes Gesicht und zitterte vor hilflosem Entsetzen, während er ihre Handgelenke im Rücken festhielt. Wenn sie den Mund aufmachte und schrie, würde er ihr sein Taschentuch als Knebel hineinschieben und sie würde dem Ersticken nahe sein. »Mal sehen,
was wir hier haben«, murmelte er fast schmeichelnd, als er mit der freien Hand unter ihr Röckchen griff…
Olivia stemmte sich durch die schleimigen schwarzen Ranken abscheulicher Erinnerung nach oben und warf sich dem hellen Sonnendurchbruch erwachender Wirklichkeit entgegen. Sie riss die Augen auf. Ihr Herz raste, ihr Atem kam angestrengt und stoßweise, als liefe sie um ihr Leben.
Sie setzte sich auf und umfing zitternd ihre Knie, während der Schweiß auf ihrer Haut trocknete. Sie war allein in der Kabine, doch das Kissen neben ihr trug noch die Spur von Anthonys Kopf. Sonne strömte durch das offene Fenster herein, und ihre Panik schwand allmählich, Herzschlag und Atem verlangsamten sich. Trotzdem konnte sie das Entsetzen nicht abschütteln, auch nicht den latenten Schrecken, der kein Albtraum, sondern das Neuerwachen einer lange begrabenen Realität war.
Auf der Marmorplatte der Frisierkommode stand ein Krug Wasser in einer Waschschüssel. Olivia schob die Decke von sich und stand auf. Sie hatte Schmerzen von Kopf bis Fuß wie nach einem verlorenen Ringkampf. Das Wasser im Krug war heiß. In der Seifenschüssel lag die Verbenenseife, daneben entdeckte sie frische, zusammengelegte Handtücher.
Olivia schüttete Wasser in die Schüssel und wusch sich von Kopf bis Fuß. Als sie sich zwischen den Beinen säuberte, schauderte sie, da sie nun wusste, was die grässliche Erinnerung ausgelöst hatte. Nach der Liebesnacht mit Anthony empfand sie dasselbe Wundsein, das sie gequält hatte, wenn ihr Stiefbruder pfeifend davongeschritten war und sie zitternd auf dem Fenstersims zurückgelassen hatte.
Jedes Mal war es dasselbe während des grässlichen Jahres, als Brian Morse auf Castle Granville gelebt hatte. Immer wenn er ihr wehtat, sie mit seinen harten, bohrenden Fingern verletzte, hatte er leise und in überzeugendem Drohton geflüstert, dass er sie töten würde, sollte sie jemals einer Menschenseele etwas verraten. Stets war er heiter pfeifend davongeschlendert, und sie war wie eine weggeworfene, kaputte Puppe zurückgeblieben.
Wie alt war sie gewesen? Acht oder neun. Damals war sie so sicher gewesen, er würde seine Drohung wahr machen, dass sie sich einfach weigerte, das Geschehene im Gedächtnis zu behalten.
Olivia wurde übel. Es war die Übelkeit, die sie von früher so gut kannte. Sie stützte die Hände auf die Kommode und wartete, dass sie vorüberging. Ihre Nacktheit empfand sie nun als so störend, wie es zuvor nie der Fall gewesen war. Sie massierte sich mit einer Hand die Kehle. Ihr improvisiertes Kleid hatte sie in den Schrank gelegt, ehe sie am Abend zuvor zu Bett gegangen war.
In fieberhafter Eile riss sie die Schranktür auf und zerrte das Hemd heraus. Erst als sie es angezogen hatte, fühlte sie sich wieder sicher. Sie ging ans Fenster und blickte hinaus aufs Meer. Es erstreckte sich nicht mehr glatt und ungebrochen vor ihr. Land war in Sicht. Die Buckelform der Isle of Wight. Sie waren fast zu Hause angelangt. Anthony hatte Wort gehalten.
Olivia wandte dem Fenster den Rücken und schlang die Arme um sich, als fröre sie, obwohl die Sonne warm auf den Eichenboden fiel, auf dem sie barfuß stand. Alle ihre Freude schien ihr aus der Seele gesogen. Sie fühlte sich befleckt, verletzt, irgendwie unwürdig. Es war ein so altes und vertrautes
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