Die Braut des Vagabunden
solcher Betrug herauskam, konnte die Frau zum Old Bailey gebracht und, wenn man sie für schuldig befand, zum Tode verurteilt werden. Temperance hatte nur nach einem sicheren Ort zum Leben gesucht, an dem sie Jacks Kind aufziehen konnte, doch dabei hatte sie fälschlicherweise behauptet, die Gemahlin eines Dukes zu sein. Das war sicher ein noch schwereres Vergehen, als sich für die Frau eines gewöhnlichen Seemanns auszugeben.
Sie legte eine Hand auf ihren Bauch und unterdrückte ein ungläubiges Lachen. Es war beinahe komisch. Sie hatte versucht, sich davor zu schützen, öffentlich an den Pranger gestellt zu werden, und sich damit zur Todeskandidatin gemacht. Zumindest würde man sie erst aufhängen, nachdem das Kind geboren war.
„Wer seid Ihr?“
Die unerwartete Frage erschreckte sie. Sie drehte sich herum und bemerkte einen kleinen Jungen, der sie ansah, erschreckend vertraut mit seinem schwarzen Haar und den dunklen Augen.
„Temperance“, brachte sie schließlich heraus. Jack hatte ihr gesagt, es gäbe keine Frau, die auf ihn wartete. Der Gedanke, er könnte Kinder haben, war ihr nie gekommen.
„Mein Name ist Toby“, sagte der Junge. „Was macht Ihr hier?“
„Ich warte hier, um den Duke zu sehen.“
„Er ist nicht da“, sagte Toby.
„Ich weiß.“
„Er muss etwas sehr Wichtiges erledigen“, fuhr er fort. „Er ist so lange weg, weil niemand sonst stark und tapfer genug ist, um das zu tun. Er jagt einen bösen Mann.“
„Er – ja, er ist stark und tapfer“, stimmte Temperance zu. „Welchen bösen Mann?“ Noch immer wusste sie nicht, womit Jack in den vergangenen zweieinhalb Monaten beschäftigt gewesen war.
„Er hat versucht, eine Dame zu entführen. Papa jagt ihn. Es stand in seinem Brief.“ Toby kniff die Augen zusammen. „Nur für Euch wird Papa nicht zurückkommen.“ Er reckte eigensinnig das Kinn. „Vor Wochen schon wollte er zu Hause sein, er hatte es mir versprochen. Euretwegen wird er nicht früher kommen.“
„Nein. Was – was für eine Dame?“, fragte sie. „Deine Mutter?“
„Nein!“, erwiderte Toby und sah sie mit einer Mischung aus Verachtung und Verwirrung an. „Eine Dame aus London. Cousin Jakob hat sie geheiratet. Ich erinnere mich nicht an Cousin Jakob, aber Großmama sagt, er wird uns bald mit seiner neuen Braut besuchen kommen.“
„Oh.“ Temperance stellte keine weiteren Fragen mehr. Es war peinlich, einem Kind so wichtige Informationen zu entlocken.
„Cherry sagt, Ihr seid Papas Ehefrau“, sagte Toby.
„Äh …“ Die Lüge blieb Temperance im Halse stecken. „Hm …“ Sie überlegte, was sie sagen könnte, ohne den jungen Fragesteller zu kränken.
„Großmama sagte, dass Papa bald heiraten würde und dass ich zu seiner Gemahlin freundlich sein muss. Er ist nicht da, also ist es meine Pflicht, Euch in Eurem neuen Heim zu begrüßen.“ Er konzentrierte sich so sehr, dass er die Stirn runzelte, und verbeugte sich vor ihr.
Erstaunt sah Temperance ihn an.
Toby richtete sich auf, betrachtete sie missbilligend und verneigte sich dann erneut. Hastig erhob sie sich von der Bank, glättete ihre Röcke und sank dann in ihren besten Hofknicks. Das Letzte, was sie wollte, war, auf irgendjemanden in Kilverdale Hall einen schlechten Eindruck zu machen – vor allem nicht auf Jacks Sohn.
„Danke, Sir“, sagte sie ernsthaft. Einen Moment lang sahen sie einander an. Temperance wusste nicht viel über kleine Jungen, und Toby hatte offensichtlich seine Floskeln erschöpft.
„Du bist ein sehr höflicher junger Mann. Wie alt bist du?“, fragte sie schließlich.
„Sieben. Wie alt seid Ihr?“
„Dreiundzwanzig.“
„Papa ist sechsundzwanzig.“
„Tatsächlich?“ Dieses Detail war ihr bisher unbekannt gewesen.
„Großmama ist siebenundvierzig.“
„Du meinst die Duchess?“, fragte Temperance und fand, dass Jacks Mutter wesentlich jünger wirkte.
„Ja. Cherry ist achtzehn und Hinchcliff zweiundfünfzig …“
„Du hast eine sehr gute Inventarliste des Haushalts aufgestellt“, stellte Temperance fest.
„Was ist eine Inventarliste?“
„In meinem Laden gab es eine Liste mit allen Waren, die ich auf Lager hatte“, sagte sie. „In diesem Falle meinte ich, dass du in deinem Kopf eine gute Übersicht über alle Leute hast, die in diesem Haushalt leben.“
Mit gerunzelter Stirn dachte er nach über das, was sie gesagt hatte, dann nickte er. „Das stimmt“, sagte er. „Ich kenne jeden, der hier im Haus lebt. Was verkauft Ihr in
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