Die Braut im Schnee
dann?», fragte Marthaler.
«Er hat kurz hintereinander drei Prostituierte erstochen. Dann hat er seine Mutter umgebracht.»
«Er hat was? Aber wieso?»
«Nur aus dem einen Grund: weil sie seine Mutter war. Eines Tages sei ihm klar geworden, dass sie ihn ja empfangen habe. Und dass sie dafür mit einem Mann, mit seinem Vater, habe schlafen müssen. Also sei auch sie unrein gewesen und habe es nicht anders verdient. Sehen Sie, Sadisten sind oft ausgeprägte Moralisten.»
«Trotzdem verstehe ich noch immer nicht, was das mit unseren Brautschleiern zu tun hat.»
«Genau weiß ich es auch nicht», sagte Hirschberg, «aberso viel scheint mir festzustehen: Für Ihren Täter spielt die Ehe eine überragende Rolle. Vielleicht ist er in dieser Hinsicht enttäuscht worden. Von der Ehe seiner Eltern oder von seiner eigenen. Vielleicht von beiden.»
«Und deshalb wird er zum Monster?»
Kaum hatte Marthaler das Wort gesagt, bereute er es schon. Er befürchtete, den Psychologen endgültig verstimmt zu haben. Stattdessen lachte Rainer Hirschberg.
«Sie täuschen sich», sagte er. «Sie täuschen sich gründlich. Unter den Fällen, mit denen ich zu tun hatte, gab es keinen einzigen, wo ein Täter dem gängigen Bild des Sadisten entsprochen hätte: keinen Tierquäler, keinen Vergewaltiger, keinen brutalen Macho oder Schläger, keinen einzigen Rohling. Im Gegenteil: Immer waren es Männer, die von ihrer Umgebung als weich, als angepasst, als konfliktscheu und manchmal sogar als weiblich bezeichnet wurden. Männer, die ganz und gar unauffällig und ohne intensive Beziehungen lebten. Also: Wenn Sie den Mann finden wollen, dann suchen Sie bitte kein Monster!»
Marthaler merkte, wie sehr ihn das Gespräch inzwischen anstrengte. Aber noch immer hatte er nicht den Eindruck, dass sie zu dem wesentlichen Punkt vorgedrungen waren. Und das, was er gerade gehört hatte, war auch nicht dazu angetan, ihn zu ermutigen.
«Wenn es so ist, wie Sie sagen, wenn er völlig unauffällig lebt, dann gibt es also keine Möglichkeit, ihn zu erkennen?»
«So ist es.»
«Aber muss es zu zwei so brutalen Morden nicht eine Vorgeschichte geben? Müssen wir nicht davon ausgehen, dass der Täter schon früher seine Neigungen auf die ein oder andere Weise ausgelebt hat?»
«Nein», sagte Hirschberg mit großer Bestimmtheit. «Auch das ist ein gängiger Irrtum. Sadismus ist nicht unbedingt eineKonstante. Es gibt Menschen, bei denen er ein ganzes Leben lang dazugehört. Sehr viel häufiger ist aber der Fall, dass die Neigung nur in besonders krisenhaften Lebenssituationen auftritt, in Phasen, wo sich diese Menschen gründlich in Frage gestellt sehen.»
«Das heißt, es könnte sein, dass der Mord an Andrea Lorenz der letzte war, den der Mann begangen hat? Auch wenn wir ihn nicht fassen?»
«Vorsicht, das habe ich nicht gesagt. Das halte ich sogar für überaus unwahrscheinlich. Es gibt ein Phänomen, das man als seelischen Dammbruch bezeichnen könnte. Die Tötung eines Menschen ist ein solcher Dammbruch. Wer das getan und daraus Befriedigung gezogen hat, der wird es wieder tun wollen …»
Marthaler merkte, dass Rainer Hirschberg noch etwas sagen wollte, dass er nun aber zögerte, seinen Gedanken weiterzuführen.
«Ja?», sagte er. «Sprechen Sie weiter!»
«Ich glaube, dass er es bald wieder tun wird. Es wird noch weniger Zeit vergehen als zwischen den ersten beiden Malen. Alles, was Sie mir über den Tatort in den Schwanheimer Dünen erzählt haben, spricht dafür, dass der Mann unter Dampf steht, um es bildlich auszudrücken. Er ist entfesselt. Er will mehr davon.»
Marthaler schloss die Augen und legte seinen Kopf in den Nacken. Er merkte, wie sein Blutdruck stieg. Wenn er sich wirklich so etwas wie Zuversicht von diesem Gespräch erhofft hatte, dann war davon nach den letzten Worten des Psychologen nichts mehr übrig. Schließlich nickte er.
«Ja», sagte er. «Das ist das, was auch wir vermuten und befürchten.»
Einen Moment lang saßen sie sich schweigend gegenüber. Rainer Hirschberg hatte sich eine neue Pfeife angesteckt undblies jetzt mit unbewegter Miene seine Wölkchen in die Luft. Dann wandte er seinen Kopf in Richtung des Fachwerkhauses. Marthaler folgte seinem Blick und sah die junge Frau, die ihnen auf dem kleinen Trampelpfad mit einem Tablett in den Händen entgegenkam. Sie trug einen karierten Pullover, Blue Jeans und Reitstiefel. Ihre Haare hatte sie jetzt zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Im Schaft ihres rechten
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