Die Braut im Schnee
weiß undschrumpelig wurden. Er packte seine Sachen, nahm sein rotes Rennrad und trug es die Treppe hinab. Als er in den Gastraum kam, sah er die Wirtin in der Küche arbeiten.
«Gut geschlafen?», rief sie ihm zu.
«Für Frühstück ist es wohl schon zu spät?», sagte er.
«Kommt gleich. Willst du Kaffee oder Kakao?»
«Kaffee», sagte Tobi. «Wo sind wir hier eigentlich?»
«Wie meinst du das. Sag nur, du weißt nicht, wo du bist?!»
Tobi verneinte. «Na weißt du», sagte die Frau. «Du bist in Miehlen. Da, wo der Schinderhannes herkommt. Aber wahrscheinlich weißt du gar nicht, wer das war.»
Sie erwartete keine Antwort, und er sagte nichts. Als er seine beiden Brötchen aufgegessen hatte, brachte sie ihm ein großes Stück Hefekuchen.
«Musst du nicht zur Schule?», fragte sie.
Er ärgerte sich, dass er sich keine Antwort auf diese Frage zurechtgelegt hatte, also schwieg er.
«Bist du ausgerückt?»
Er zuckte mit den Achseln.
«Ich bin als junges Mädchen viermal ausgerückt, aber jedes Mal wieder zurückgekommen.»
«Und warum?», fragte er.
«Ich wollte in die Stadt», sagte sie. «Eigentlich will ich immer noch in die Stadt.»
«Und warum gehen Sie nicht?»
«Es ist zu spät», sagte die Frau. «Für manche Dinge ist es irgendwann zu spät.»
Sie ging im Gastraum umher und rückte die Deckchen auf den Tischen gerade. Aber es gab nichts gerade zu rücken, und Tobi merkte, dass sie es nur tat, weil sie in seiner Nähe sein wollte.
Dann blieb sie stehen und sah aus dem Fenster. Aber es gabnichts zu sehen. «Einen Jungen wie dich hätte ich immer gerne gehabt», sagte sie, ohne ihn anzuschauen. «Aber ich habe nie den richtigen Mann dafür gefunden.»
Tobi wusste nicht, was er sagen sollte. Das Geständnis der fremden Frau machte ihn befangen. Er stand auf und bedankte sich. Dann sagte er «Auf Wiedersehen».
«Nein», sagte sie, «wir sehen uns nicht wieder. Aber ich wünsche dir alles Gute.»
Tobi nickte.
«Und meld dich bald zu Hause. Deine Mutter wird sich Sorgen machen. Versprichst du mir das?»
«Ja», sagte Tobi.
Er nahm sein Fahrrad und trug es auf die Straße. Dann stieg er auf und fuhr los. Nach zwanzig Metern drehte er sich noch einmal um. Die Frau war vor das Haus getreten und schaute ihm nach. Bevor er um die Kurve bog, nahm Tobi die linke Hand vom Lenker und hob sie kurz hoch.
Er ließ sich Zeit. Unterwegs musste er ein paarmal nach dem Weg fragen. Immer, wenn man ihn auf eine größere Straße schickte, bog er bei nächster Gelegenheit wieder ab und suchte sich eine Strecke, die weniger dicht befahren war. Warum er nach Mainz wollte, wusste er nicht. Vielleicht nur deshalb, weil Opi ihm einmal erzählt hatte, dass ihm dort ein fremder Mann, als er selbst vor vielen Jahren in großer Not gewesen sei, geholfen und ihn für ein paar Tage versteckt habe. Seitdem kam Tobi diese Stadt als ein Ort der Rettung vor.
Am späten Nachmittag erreichte er die Rheinbrücke. Er fuhr hinüber und tauchte unter im Gewirr der kleinen Altstadtgassen. Als er den Duft von frisch gebackener Pizza roch, merkte er, wie groß sein Hunger inzwischen wieder war. Hinter dem Dom fand er einen Bauwagen, den man auf ein paar dicke Holzplanken gestellt hatte, sodass unter dem Wagen einHohlraum entstanden war. Tobi wartete einen unbeobachteten Moment ab, dann schob er sein Fahrrad darunter und stopfte auch seinen Rucksack in das Versteck.
Er schlenderte durch die Stadt. Er kaufte sich eine warme Salzbrezel und trank eine Limonade. Er durchstreifte ein paar Kaufhäuser, dann zählte er sein Geld. Er beschloss, sich vor eines der Restaurants auf den Domplatz zu setzen und einen Teller Spaghetti zu essen. Als er bestellt hatte, nahm er sein Handy und wählte Maras Nummer.
«Wie geht’s dir?», fragte er.
Sie druckste. Dann begann sie zu reden. Sie erzählte, dass sie schon zweimal bei Opi gewesen sei, dass es ihm gut gehe, dass er aber dauernd nach seinem Enkel frage. Sie erzählte, dass Flocky schon wieder Hundeflöhe habe und dass sie dringend etwas dagegen unternehmen müsse. Sie erzählte, dass ihr Bruder im Haus Ball gespielt habe und dabei eine große Vase zu Bruch gegangen sei. Sie redete und redete.
«Mara, was ist los?», fragte Tobi.
«Wieso, was soll los sein?»
«Irgendwas ist mit dir. Warum erzählst du mir das alles?»
Sie schwieg einen Moment. Tobi wartete auf eine Antwort. Irgendwas stimmte nicht mit ihr, und er wollte es wissen. Er wollte ihr nicht aus der Klemme helfen, indem er
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