Die Braut im Schnee
Gesicht hatte sich gerötet. Trotzdem blieb sein Ton ruhig. «Warum treffe ich eigentlich nie einen Polizisten, der einmal auf ganz arglose, offene Weise interessiert ist an seiner Umgebung. Immer strahlt ihr dieses muffige Misstrauen aus. Diese Neugier, die gar nicht gierig auf Neues ist, sondern immer etwas entlarven will, die immer auf der Lauer liegt, weil ihr vermutet, dass jeder, der euch begegnet, etwas zu verbergen hat. Immer habe ich das Gefühl, dass ihr die Welt einteiltin ‹wir› und die ‹anderen›. Und im Zweifel gehört einer wie ich natürlich zu den anderen – zu den Zivilisten, die im besten Fall ahnungslose Idioten sind, in den meisten Fällen aber potenzielle Gegner. Dass ich Tereza einfach helfen will, weil sie eine Freundin meiner Frau ist, können Sie sich offenbar nicht einmal vorstellen.»
Marthaler schwieg. Er wollte, dass der andere weitersprach. Langsam begann ihm Maurers inständige Art zu gefallen.
«Tereza ist sauer, aber sie ist noch nicht fertig mit Ihnen. Nehmen Sie einen zweiten Anlauf! Reden Sie mit ihr!»
«Und wenn sie immer noch nicht will?»
«Ich denke, sie wird wollen.»
«Weil Sie sie davon überzeugt haben?»
«Sie müssen den ersten Schritt machen.» Maurer legte eine Visitenkarte mit seiner Privatnummer auf den Tisch. «Rufen Sie sie an, laden Sie Tereza zum Essen ein. Reden Sie mit ihr. Was daraus wird, das geht mich dann wirklich nichts mehr an.»
Maurer war aufgestanden und hatte sich bereits zum Gehen gewandt.
«Eines würde mich noch interessieren», sagte Marthaler. «Warum haben Sie sich gestern nicht gewehrt?»
«Meinen Sie die Frage ernst? Wollen Sie es wirklich wissen?»
Marthaler nickte.
«Weil Sie Polizist sind.»
«Weil ich Polizist bin?»
«Erinnern Sie sich noch an die Auseinandersetzungen um die Startbahn West des Frankfurter Flughafens? Ich habe mich als junger Mann an den Demonstrationen beteiligt. Genau wie meine Eltern, meine Großeltern und alle Nachbarn. Einmal sah ich, wie ein Polizist einen alten Mann niederschlug und auf ihn eintrat. Als ich dem Alten zu Hilfe kommen wollte,stürzten zwei andere Polizisten mit ihren Knüppeln auf mich zu. Ich wollte mich mit einem Stock wehren, den ich vom Waldboden aufgelesen hatte, aber die beiden waren schneller. Sie prügelten mich krankenhausreif. Später auf den Polizeifotos sah man nur noch, wie ich meinen Stock erhob und gegen die Polizisten richtete. Andere Aufnahmen gab es angeblich nicht. Ich wurde wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt, wegen Körperverletzung und Landfriedensbruch verurteilt. Und als Sie mir gestern Ihren Dienstausweis vor die Nase hielten …»
Marthaler winkte ab. «Schon gut …», sagte er. «Ich kenne diese Geschichten. Und ich ahne, dass Sie die Wahrheit sagen.»
«Nein», sagte Maurer. «Die Geschichte ist noch nicht ganz zu Ende. Der alte Mann war nämlich mein Großvater. Er ist zwei Jahre später gestorben – an den Folgen der Misshandlungen. Was man selbstverständlich auch nicht nachweisen konnte.»
Marthaler schaute zu Boden. Er zögerte, dem anderen seine Hand entgegenzustrecken. Dann tat er es doch. «Danke», sagte er. «Und: Entschuldigung.»
Maurer lächelte. Dann schlug er ein.
Marthaler schaute auf die Uhr. Es war Viertel vor neun. Eigentlich hatte er noch Gymnastik machen wollen. Jetzt war es dafür zu spät. Sein neues Leben musste warten. Er nahm zwei Brötchen aus dem Gefrierfach, schaltete den Backofen an und legte sie hinein. Dann ging er ins Bad.
Als er dort fertig war, setzte er sich in den Sessel und wählte die Nummer, die Maurer ihm gegeben hatte. Tereza meldete sich nach dem zweiten Läuten.
«Ich bin’s», sagte er.
«Ja, ich weiß.»
Ihre Stimme klang brüchig.
«Können wir uns sehen?»
Sie schwieg.
«Lass uns reden, bitte, Tereza.»
«Ja.» Sonst nichts.
«Magst du zum Essen kommen, heute Abend? Soll ich uns etwas kochen?»
«Nein. Nicht bei dir.»
«Egal, wo. Mach du einen Vorschlag.»
«Ich möchte rausgehen, wo es Luft gibt.»
«Wollen wir auf den Lohrberg fahren? Soll ich dich abholen?»
«Nein, ich komme selbst», sagte sie. «Ich bin schon groß.»
Sie verabredeten sich für neunzehn Uhr. Marthaler wusste nicht, was er noch sagen sollte, also verabschiedete er sich. Er wollte bereits auflegen, als sie noch einmal ansetzte. «Robert?»
«Ja?»
«Du bist eine zweifelhafte Mensch.»
Er musste lachen. Aber er verstand, was sie meinte. Und wahrscheinlich hatte sie Recht.
Die Leitung war
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