Die Breznkönigin: Roman (German Edition)
mal?«
Ich schüttele den Kopf. Das lag bisher nicht auf unseren nächtlichen Routen.
» Echt nicht? Dann lass uns doch gleich in die Richtung fahren.«
» Okay!«
Auf geht’s!
Erst radeln wir bloß ein Stück am Landwehrkanal entlang, vorbei am alten Backsteingebäude des Urbankrankenhauses, und am Urbanhafen, in dem ein paar Kähne friedlich im Brackwasser liegen. Diese Strecke kenne ich natürlich. Aber dann biegen wir plötzlich links ab in eine von Altbauten gesäumte Straße, die uns direkt zum Tempelhofer Feld bringt. Früher war hier der Flughafen, jetzt ist das Gelände für die Allgemeinheit geöffnet, wie ein Park, jeder kann ihn nutzen. Man muss bloß durch ein kleines Tor und kommt direkt auf eine der Landebahnen.
Irre, oder?
Das Areal ist so riesig, dass man kaum erkennen kann, wo es zu Ende ist – irgendwo ganz hinten sieht man eine Reihe winziger Bäume, und dahinter wieder die ersten Wohnhäuser, in Streichholzschachtelgröße. Es ist kaum zu glauben, dass man mitten in der Stadt ist! Bäume und Sträucher, Kioske und Bänke gibt es ausschließlich am Rand des Parks, während der Rest eine total plane Fläche ist, die aus nichts als Wiese und den ehemaligen Landebahnen besteht. Und darauf laufen Hunderte winziger Menschen herum, Jogger, Spaziergänger, Rollerblader, Hundebesitzer, Eltern mit ihren Kindern, manche picknicken sogar.
Der Tino lacht, als er sieht, was ich für Augen mache, und reicht mir seine Hand. Und so radeln wir nebeneinander über das Flugfeld, strahlend wie zwei Maikäfer. Die Sonne scheint, und unsere Haare flattern im Wind.
» Toll, oder?«, fragt Tino, und ich nicke begeistert. » Komm, schneller!«
Er lässt meine Hand los und wir treten in die Pedale, was geht, fahren ein Stück um die Wette, schneller und immer schneller, und nichts versperrt uns den Weg. Gleich heben wir ab, es ist herrlich!
» Ich kann nicht mehr!«, ruft Tino nach ein paar Minuten. » Stopp! Anhalten!«
Er biegt auf die Wiese ab und fährt ein Stück querfeldein; ich folge ihm. Wir lassen unsere Räder ins Gras fallen und uns direkt daneben. Eine Weile lang schnaufen wir bloß und warten, dass unser Herzschlag sich beruhigt. Dann lege ich meinen Kopf auf seine Schulter, und wir gucken in den Himmel, an dem ein paar Wolken vorüberziehen. Keine davon ähnelt einer Grundschullehrerin, sie sehen einfach nur aus wie Wolken, aber das ist schon bemerkenswert genug.
» Ich komm total gern hier her«, sagt Tino.
» Versteh ich gut«, sage ich. » Wirklich super hier.«
» Im Herbst ist hier alles voller Familien, die Drachen steigen lassen«, sagt er.
» Ja, das macht hier bestimmt einen Riesenspaß«, sage ich. » Es geht ja jetzt schon so ein Wind, und das, obwohl erst Mitte August ist.«
» Wollen wir das auch mal machen?«, fragt er schüchtern.
» Was? Mit Drachen spielen?«, frage ich amüsiert.
» Ja!«, sagt er.
Ich lache, aber Tino bleibt ernst.
» Irgendwie erinnert mich das immer an meinen Vater«, sagt er leise.
Ich spüre, wie es mir das Herz zusammenschnürt. Tinos Vater ist gestorben, als er zwölf war, er hat mir erst vor ein paar Wochen davon erzählt, obwohl wir ja schon über vier Monate zusammen sind – so weh tut es ihm offensichtlich. Es muss eine harte Zeit gewesen sein für ihn und seine Mutter, er ist ja ihr einziges Kind. Sie hat ihn so sehr gebraucht, dass er es kaum noch ausgehalten hat, sagt er, und dass das einer der wichtigsten Gründe war, warum er NRW verließ. Er hatte irgendwann einfach nicht mehr die Kraft, ihren Ersatzehemann zu spielen.
» Ich lass gern mal mit dir einen Drachen fliegen«, sage ich. » Das würde mir Spaß machen!«
» Ja?«, fragt er, als könne er es gar nicht glauben.
» Logisch!«, sage ich und muss schon wieder lachen.
Vielleicht hat das auch etwas mit dem frühen Tod seines Vaters zu tun: Manchmal ist Tino so verspielt und zutraulich wie ein junges Hündchen, das gelobt und geliebt und geherzt werden will. Durch den Tod seines Vaters musste er wahnsinnig früh Verantwortung übernehmen, und manchmal hab ich den Eindruck, dass er jetzt in Berlin etwas nachholt, was ihm in seiner Jugend verwehrt geblieben ist: machen, was er will. Für den Augenblick leben. Sich nur um sich und seine Freunde kümmern. Er will Spaß haben, und irgendwie kann ich ihn da verstehen.
» Super!«, sagt er. » Wollen wir weiter?«
» Okay«, sage ich überrascht, denn wir haben uns eigentlich gerade erst hingelegt.
» Ich will dir noch ein paar
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