Die Brillenmacherin
erhalten. Wer weiß, wie nahe er schon heran ist, vielleicht ist es nur noch eine Stunde Weges! Ich kann keine Verzögerung riskieren.«
»Richtig, er muß die Nachricht sofort erhalten. Wenn ich dir einen Weg sage, wie er sie noch schneller erhält als bei einem Ausfall, bei dem du dich erst durch Courtenays Widerstand hindurchkämpfen mußt, bleibst du dann in der Burg?«
Thomas runzelte die Stirn. »Wie soll das gehen?«
[ Menü ]
|274| 25
Es war noch nicht einmal Sommer, und er schwitzte. Nicholas wischte sich über Nacken und Stirn. Wie er es haßte, wenn Schweißperlen den Rücken hinunterrollten! Er verabscheute das Zwacken unter den Achseln, er litt fürchterlich am zerriebenen, feuchten Gesäß. Die Aprilluft verschaffte keine Erleichterung, obwohl sie kühl war. Tropfen standen darin wie in einem Dampfbad, es erschwerte das Atmen. Das Pferd wärmte von unten, der ganze Tierkörper strahlte Hitze ab, sie drang durch den Sattel, sie brachte die Schenkel zum Glühen. Er saß seit Tagen von früh bis spät auf diesem Ledersitz, die Beine gegrätscht, war es da ein Wunder, daß er ins Schwitzen kam? Im ärgsten Frost und Winter würde er schwitzen.
Kanzler Rigg hatte ihm vier Bewaffnete mitgegeben, gegen seinen Willen, und einen jungen Studenten, der ihm beim Übersetzen zur Hand gehen sollte: in Wortlisten nachschauen, Formulierungen prüfen. Er hatte sich gewehrt, weil auf diese Weise Mitwisser entstanden, die sein Versteck in Braybrooke kannten, aber Rigg hatte sich durchgesetzt. So reisten sie zu sechst.
»Was meint Ihr«, fragte der Student von der Seite. »Wodurch unterscheidet sich die Bibel von anderen Schriften über Gott?«
»Was meinst du für Schriften, Junge?«
»Predigtsammlungen, ich habe eine, zweihundert Predigten in einem Band, und sie reden alle vom Glauben. Oder die Lebensberichte der Heiligen. Denkt Ihr, sie unterscheiden sich von der Bibel?«
»Natürlich. Zwar besteht auch die Bibel aus menschlichen Worten, mit denen Sterbliche über ihre Erlebnisse mit dem Allmächtigen schrieben. Es sind mit Schwäche behaftete, unbeholfene Worte. Aber Gott erfüllt sie wie Häuser, seine Anwesenheit |275| bricht als helles Licht aus den Fenstern und läßt sie leuchten. Er offenbart sich durch sie hindurch, er zeigt sein Wesen. Anscheinend gefällt es ihm, uns Schmutziggeborene zu seinen Sprachrohren zu machen.«
»Geht dann nicht das Licht verloren, wenn die Bibel in die heutige Sprache übersetzt wird? Ich meine, Ihr baut neue Häuser, aber wie könnt Ihr wissen, daß Gott darin einzieht?«
Daher wehte der Wind. Ein pfiffiger Junge. »Ich kann es nicht wissen.«
»Und doch übersetzt Ihr die Heilige Schrift?«
»Was nützt es, wenn eine Stube von unzähligen Lampen erleuchtet ist, aber niemand geht hinein? Die Bibel in lateinischer Sprache wird nicht mehr gelesen. Es ist Zeit, daß wir neue Häuser errichten, dort, wo die Menschen leben. Gott selbst wird entscheiden, ob er durch sie wirken will. Ich bin fest davon überzeugt. Gott hat John Wycliffe die Augen geöffnet. Seitdem haben viele Menschen zu einer neuen Nähe zum Allmächtigen gefunden. Ein guter Baum trägt keine schlechten Früchte und ein schlechter keine guten, sagte der Herr Jesus zu seinen Jüngern, und sieh dir an, was die als Lollarden beschimpften Nachfolger Wycliffes bewirkt haben: Gutes? Schlechtes? Vom Ritter bis zum Knecht, vom Bauern bis zum Bürger, überall in England beten Menschen statt leerer Hülsen lebendige, persönliche Gedanken, sie sprechen mit Gott! Es wird gelesen, es wird über Gott nachgedacht, weitab von Kirchentraditionen, Beichte und Pilgerei. Gott will die Bibel in englischer Sprache.«
»Ich wünschte«, sagte der Student leise und tätschelte seine Stute, »ich würde so genau wissen, was das Richtige ist, wie Ihr es wißt.«
»Hältst du mich für einen Ketzer?«
»Nein, das meine ich nicht.«
»Du kannst es ruhig sagen. Ich bin es gewohnt. Du bist dir unsicher, ob die Kirchenreform gut ist?«
»Nein, Doktor Hereford, wirklich, ich glaube daran, daß Ihr den richtigen Weg eingeschlagen habt. Aber ich laufe |276| Euch ja nur hinterher, versteht Ihr, was ich meine? Ihr habt den Weg gefunden, und ich folge Euch. Soviel mehr Entscheidungen gilt es zu treffen als diese eine! Und nicht immer läuft mir jemand voran.«
»Um welche Entscheidung geht es?«
»Zum Beispiel frage ich mich, ob es richtig ist, Romane zu lesen.«
»Du meinst die neue englische Dichtung? Die ist recht einfach
Weitere Kostenlose Bücher