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Die Brillenmacherin

Die Brillenmacherin

Titel: Die Brillenmacherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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»Wer ist da?«
    Auch Hawisia erwachte. Sie weinte. Catherine drückte die Kleine an sich, wiegte sie hin und her, summte, um sie zu beruhigen.
    »Was ist das?«
    »Das ist meine Tochter Hawisia. Ich bin Catherine Rowe, Sir Latimer schickt mich. Höre, jemand muß nach Nottingham Castle gehen und Nevill benachrichtigen.« Immer noch schrie die Kleine.
    »Wir wären längst gegangen«, sagte der Alte, »wenn man uns gelassen hätte. Der Junge vom Raabsbauern sollte nach Nottingham, aber sie haben ihn eingefangen und gefoltert und zurückgeschickt. Danach hat es der Küster versucht. Auch er kam wieder, auf das gräßlichste mißhandelt. Wir sind eingekreist.«
    »Also wird Courtenays Heer die Burg stürmen. Ich habe es gesehen, sie sind zu viele.«
    |323| Der Schuster schwieg eine Weile, dann sagte er: »Wir beten um ein Wunder Gottes. Wir beten.«
    Hawisia hörte nicht auf zu schreien. Es waren hohe Töne, scharf und klar in der stillen Nacht. Wenn ein Wachposten sie anhielt, konnte sie sagen, sie gehe mit ihrem Kind spazieren, um es zu beruhigen? Was wußte ein Mann von der Pflege eines Säuglings! »Ja, betet«, sagte sie und verließ das Haus.
    Kaum war sie drei Schritte auf der Straße gelaufen, fuhr sie eine wohlbekannte Stimme von der Seite an: »Stehengeblie ben !«
    »Ich bin auf dem Rückweg, du Dummkopf.«
    »Wie nennst du mich?« Fackeln kreisten sie ein. »Die Dinge liegen anders inzwischen. Wir wissen, daß du eine Verräterin bist.« Spieße, Schwerter, Kettenhemden. Man meinte es ernst. »Ergreift sie«, befahl der Posten.
    Catherine rannte um ihr Leben.

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    Der Baldachin des königlichen Betts warf blaue Farbfelder an die Wände des Schlafgemachs. Seine Vorhänge leuchteten, goldene Lilien funkelten darauf wie Sterne am Himmelszelt. König Richard saß auf der Bettkante und spürte zum erstenmal in seinem Leben, welche zauberhafte Schönheit einem Morgen innewohnt.
    An jedem Tag gibt es zwei Stunden, die dem profanen Leben entzogen sind, dachte er, und nicht recht dazugehören wollen zum beständigen Vorankriechen der Zeit. Die eine läßt die Sonne hinter dem Horizont versinken, und sie ragt nicht wegen der Farben am Himmel heraus, nein, sondern wegen der Finsternis, die aus uns Schattengänger macht. Niemand gewöhnt sich an den Übergang vom Tag zur Nacht. Er erschreckt uns. Wir flüchten uns zu Kerzen und Lampen, zu kleinen Lichtern, die uns trösten sollen. Und doch spüren wir die Dunkelheit, die mit weit ausgebreiteten Schwingen über das Land fliegt, die sich niederläßt und alles bedeckt. Wir staunen über die Schwärze. Es graut uns.
    Er dachte: Die andere besondere Stunde aber übersehen wir. Wir planen den Tag und sind beschäftigt, abgelenkt, während ein unirdischer Zauber geschieht. Die Geburt des Lichts. Bäume und Häuser tragen einen roten Schimmer, als würden sie von innen leuchten, sie strecken sich dem Licht hin, dulden es, schmecken es. Die Vögel spüren das Besondere der Morgendämmerung. Sie singen.
    Jene Morgenstunde war es, rot glommen die Türme von Windsor. Weiße Ziersteine glühten an Fenstern und Zinnen. Das Moos glitzerte auf den Mauern. Hirsche grasten vor den Wällen von Windsor Castle, kein Jagdhorn verkündete ihnen Unheil. Statt dessen flöteten im Wald tausendfach die Rotkehlchen, |325| die Gelbspötter und Baumpieper. Es war der 23. April 1387, der Feiertag des heiligen Georg.
    Richard hatte die Leibdiener hinausgeschickt, nachdem sie ihm beim Ankleiden behilflich gewesen waren. Er wollte nichts, als einfach hier zu sitzen und das Vogelzwitschern zu hören. Zwanzig Jahre war er alt, zwanzig Jahre hatte er gebraucht, bis er begriff, was es hieß, innezuhalten und den Morgen zu genießen.
    Er war ein Verfolgter, und doch fühlte er sich sicher. Hier hatte sich König Artus’ Tafelrunde befunden. Nicht der Round Tower, den sein Großvater hatte bauen lassen, um eine neue Tafelrunde zu gründen, nicht der Tisch darin, für den viele mächtige Eichen gefällt wurden, nein, das war es nicht, es ging nicht darum, die Ritter des größten Königs nachzuahmen. Es war die Geschichte, die Camelot-Windsor atmete. Es war die Würde, die es ausstrahlte und an alle weitergab, die hier lebten, besonders an ihn, der das Amt Artus’ übernommen hatte, ihn, Richard, den König von England.
    Sie versuchten ihn zu stürzen. Sie wollten seine Entscheidungen nicht akzeptieren, gruben Tunnel unter seinem Fundament. Er durfte nicht vergessen, wer er war. Wie hätte

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