Die Brillenmacherin
ziehen, das Seil, mit dem Repton gestern heraufgezogen worden ist, und dich. Du mußt die Wachen ablenken, während wir am Seil hinunterklettern.«
»Über dich redet hier niemand. Wenn, dann kommen Philip Repton frei und Alan. Du bleibst. Denkst du, ich würde Elias’ Mörder zur Flucht verhelfen?«
»Du hast keine andere Wahl«, sagte Sligh. »Wenn du mich nicht mitnimmst, rufe ich die Wachen. Und dann gehen auch |378| Repton und Alan nicht, was bedeutet, daß du das rettende Geheimnis nicht erfährst. Na?«
Sie sah ihren Bruder an. Er tat ihr leid. Sligh und Repton waren eine schlechte Gesellschaft für ihn, sie verdarben ihn genauso, wie Courtenay es tat. In seinem Herzen war er ein guter Mann, das wußte er selbst doch auch. Warum er sich nicht von all diesem trennte!
»Tu es, Cath«, sagte Alan.
Sie durfte sich nicht hereinlegen lassen. Möglicherweise war es eine Finte, ein Trick, um freizukommen. »Zuerst das Geheimnis.«
»Ha!« Slighs Augäpfel platzten beinahe aus dem Gesicht heraus, so dick wölbten sie sich vor, zorngeädert. »Und dann läßt du uns hier in Ketten zurück, das könnte dir so passen!«
»Ein Vorschlag.« Repton lächelte. »Du kommst heute abend mit der Zange hierher und befreist uns von den Handschellen. Dann sage ich dir das Geheimnis. Und anschließend hilfst du uns, über den Wall zu kommen. So sind beide Seiten abgesichert. Wenn du dich hereingelegt fühlst, mußt du nur nach den Wachen rufen – innerhalb der Burg sind wir dir ausgeliefert. Wenn du uns hereinzulegen versuchst, können wir uns an dir rächen, weil wir nicht mehr angekettet sind. Keiner kann die Abmachung brechen.«
Es sauste in Catherines Kopf, die Handflächen kribbelten. War sie wieder im Begriff, sich zum Werkzeug des Bösen machen zu lassen? War es überhaupt möglich, daß Geschöpfe wie Sligh und Repton etwas vorschlugen, dem man vertrauen konnte? Aber auch sie steckten ja in der Klemme. Aus der Not heraus boten sie ein gutes Geschäft an. Arbeitete man nicht in Verhören genauso? Wenn der Schurke in Bedrängnis kam, gab er seine Geheimnisse preis.
Sollte sie das Leben vieler guter Menschen gegen Elias’ Mörder eintauschen? »In Ordnung«, sagte sie.
Der Mond war nahe an die Erde herangerückt. Eine rote Sichel, zu Riesengröße angewachsen. Ein böses Auge war er, |379| das mit seiner Lust am Töten das Feld besehen wollte, auf dem bald die Schlacht anbrechen würde. Keinen Strauch wollte es verpassen, das Auge, keinen Stein, den bald Blut benetzen würde, kein Halm sollte ihm entgehen, der von einem fallenden Körper zerdrückt werden würde.
»Komm endlich!« zischte Sligh.
Alan sah auf die Burg zurück. Dort hing das Seil vom Wall herab, dort standen wie kleine Puppen die Wachposten, Puppen, die bald von einem heißen Sturm umgeknickt werden würden. Die Wände, die Türme – sie erschienen ihm traumhaft, unwirklich. Stand die Burg noch? Oder bildete er sich das nur ein? Sie schwebte über einer Ruinenlandschaft wie eine Erinnerung. Was war schon eine Nacht? Braybrooke Castle würde verschwunden sein für die nächsten tausend Jahre, was bedeutete es, daß die Burg im Augenblick noch stand? Sie war bereits ein Nebel geworden, ein Hauch aus Trümmern.
Catherine würde mit diesem Nebel aufsteigen und in die Wolken fliegen. Sie würde Hawisia mit sich nehmen und fortan aus seinem Leben verschwunden sein. Aber war es nicht richtig so? War diese Burg nicht ein Hort des Bösen, ein Schlangennest, das ausgeräuchert werden mußte? Und hatte sich Catherine nicht aus freien Stücken dazu entschieden, ein Teil davon zu werden? Ja, so war es. Er durfte keine Trauer aufkommen lassen in sich. Das Gefühl des Sieges war angebracht.
Sie waren entkommen! Sie waren dem Schlangennest entkrochen, sie atmeten freie Luft! In einer stummen Gebärde riß er die rechte Hand in die Höhe und streckte Mittelfinger und Zeigefinger gegen den Himmel aus.
»Was machst du da?« Repton sah von seiner Hand zu seinem Gesicht und zurück. »Komm jetzt, wir müssen den Wald erreichen, ehe sie das Seil bemerken!«
Alan reckte die Hand noch ein wenig höher. Er drohte mit der Gebärde zur Burg hin. »Es ist das Zeichen der Langbogenschützen. Davids Männer haben mir das beigebracht.«
»Tolles Zeichen«, spottete Sligh.
|380| »Wenn sie uns gefangennehmen in Frankreich, dann schneiden sie uns den Mittelfinger und den Zeigefinger ab, damit wir nicht mehr schießen können. Sie fürchten uns, verstehst du? Und wenn wir
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